HIV und Stigma – drehen wir uns im Kreis?

Das Thema HIV-Stigma treibt uns seit über vierzig Jahren um. Eine kleine Auslegeordnung zu einem scheinbar ewigen Problem.

Menschen mit HIV werden ausgegrenzt. Was haben wir nicht alles gehört. „Intim-Kontakte Aids-Kranker sind unter Strafe zu stellen“, forderte 1984 ein deutsches Ministerium. „HIV-Positive seien zu tätowieren, am besten am Penis oder der Gesässbacke“ hörte man auch in der Schweiz. Menschen mit HIV verloren Job, Wohnung, Partner. Freunde und Familie wandten sich ab. Alles Geschichte? Weit gefehlt.

An der HIV Glasgow im November 2024 präsentierte eine Schweizer Gruppe ein Poster mit dem Titel „Wissen, Ansichten, Wahrnehmungen und Einstellungen der Bevölkerung zu HIV und Menschen mit HIV in der Schweiz“ – Wir berichteten in der letzten Ausgabe. Gute 10% der Bevölkerung möchten nicht neben einem Menschen mit HIV sitzen, würden eine solche Person nicht beschäftigen und möchten auch keine Nachbarn mit HIV. 17% würden einem Menschen mit HIV nichts ausleihen und 14% würden keine Freundschaft beginnen. Fast 60% würden keinen Menschen mit HIV heiraten und drei Viertel möchten keine sexuelle Beziehung mit solchen Leuten.

Die Aids-Hilfe Schweiz sammelt seit vielen Jahren Diskriminierungsmeldungen. 2024 wurden 91 Fälle gesammelt, davon mehr als ein Drittel im Gesundheitswesen – ausgerechnet da, wo niemand damit rechnet. Auf Platz 2 die Sozialversicherungen (!), knapp gefolgt von Privatversicherungen. Umgekehrt wäre eigentlich logisch. Anmerkung: Bei den Zahlen der Aids-Hilfe Schweiz bleibt ein hohe Dunkelziffer. Viele Diskriminierungen werden gar nicht gemeldet.

Stigma im Gesundheitssektor

Wir blenden nochmals zxurück an die HIV Glasgow vom vergangenen November. Das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten ECDC und die European AIDS Clinical Society EACS führten Ende 2023 ein gemeinsames Projekt zu HIV-Stigma im Gesundheitwesen durch. Befragt wurden die Aspekte Ausbildung, persönliche Einstellungen, Verhalten und klinische Praxis; 18’430 Gesundheitsfachleute aus 54 Ländern der WHO Europa-Zone machten mit. Die Infektiologin Katie Darling aus Lausanne präsentierte die Ergebnisse in der Eröffnungsplenarsitzung.

Fast die Hälfte Befragten wussten nicht, ob sie je einen HIV-Infizierten behandelt hatten. Bei fast einem Drittel betrug die Zahl der behandelten Patienten mit HIV weniger als fünf. Nur 9 % hatten im vergangenen Jahr mehr als 100 Menschen mit HIV behandelt. Die meisten Befragten arbeiteten in einem Krankenhaus, aber es wurden auch mehrere andere Bereiche des Gesundheitswesens genannt, z. B. die Grundversorgung. Fast ein Fünftel der Befragten arbeiteten in Abteilungen für Infektionskrankheiten oder HIV-Versorgung.

Die Kenntnisse über HIV und das Konzept „nicht nachweisbar = nicht übertragbar“, Postexpositionsprophylaxe PEP und Präexpositionsprophylaxe PrEP variierten je nach Berufsgruppe und Gesundheitseinrichtung. Über die wichtigsten Konzepte im Zusammenhang mit HIV-Übertragung und -Prävention wussten mehr als zwei Drittel der Befragten nicht Bescheid. Über die untersuchten Bereiche am besten informiert waren die Ärzte. Als gut informiert erwiesen sich Beschäftigte des Gesundheitswesens, die eine grössere Anzahl von Menschen mit HIV betreuen. Aber mehr als die Hälfte der Befragten gab an, dass sie sich Sorgen machen würden, wenn sie HIV-Infizierte betreuen, z. B. beim Abnehmen von Blut oder beim Verbinden von Wunden. Was nicht verwundert: Die Besorgnis über die Behandlung von Menschen, die mit HIV leben, stand in umgekehrtem Verhältnis zum Grad des HIV-Wissens.

Fast jeder Zehnte der Gesundheitsfachleute gab an, dass sie Körperkontakt vermeiden würden, und ein Viertel der Befragten sagte, dass sie doppelte Handschuhe tragen würden, wenn sie eine mit HIV lebende Person betreuen. Ebenso hatte ein grosser Anteil Gesundheitsfachleute Vorbehalte gegenüber der Betreuung bestimmter Gruppen von Menschen, die mit HIV leben: 12 % zogen es entschieden vor, Menschen, die Drogen injizieren, nicht zu betreuen. 6 % sagten, dass sie die Betreuung von Männern, die Sex mit Männern haben, Sexarbeitern und Transgender-Männern und -Frauen wenn möglich vermeiden.

Der Bericht legt eine Vielzahl diskriminierender Praktiken bloss: Mehr als ein Fünftel erlebten, dass sie nicht bereit waren, Pflege zu leisten, fast soviele erlebten, dass ihr HIV-Status ohne ihre Zustimmung offengelegt wurde, erlebten eine schlechtere Pflegequalität und beinahe ein Drittel machten diskriminierende Bemerkungen oder sprachen schlecht über Menschen mit HIV.

Ein Jahr zuvor hatte ECDC in Zusammenarbeit mit der European AIDS Treatment Group und AIDS Action Europe die Ergebnisse einer Umfrage zu HIV-Stigma unter Menschen mit HIV veröffentlicht. 3’272 Personen aus 54 Ländern der WHO-Europa Zone wurden befragt.

Fast jeder dritte Befragte hatte noch keinem einzigen Familienmitglied erzählt, dass er mit HIV lebt, und jeder fünfte hatte es noch keinem einzigen Freund oder einem aktuellen Sexualpartner gesagt. Mehr als die Hälfte der Befragten sagten, dass es schwierig ist, anderen mitzuteilen, dass man mit HIV lebt.

Ablehnung durch Freunde war die am häufigsten erlebte stigmatisierende Praxis: ein Viertel der Befragten gaben an, diese Form der Stigmatisierung jemals erlebt zu haben. Jeder sechste Befragte gab an, jemals von einem Sexualpartner bedroht, beschimpft oder körperlich verletzt worden zu sein.

HIV-Stigma in der Schweiz

Und wie sieht’s in der Schweiz aus? Die Schweizerische HIV-Kohortenstudie veröffentlichte ihre Umfrage im Juli 2024. Mehr als die Hälfte der Kohortenteilnehmer wurde befragt. Für mehr als 80% ist die Offenlegung von Informationen mit den höchsten Stigma-Werten verbunden. HIV-Stigmatisierung wurde von allen Gruppen berichtet, aber weiblich, schwarz und heterosexuell zu sein waren unabhängig voneinander mit höheren Werten verbunden. Mehr als ein Drittel der Teilnehmer berichteten über Stigmatisierung im Gesundheitswesen.

Aus einigen Kliniken hörte ich, dass die Befragung zu herzergreifenden Szenen und vielen Tränen führte. Offensichtlich war das Thema Stigma während der Routinekontrollen bei vielen Betroffenen noch gar nie angesprochen worden. Eine weitere qualitative Studie unter 19 Menschen mit HIV in Lausanne zeigte, dass das Leben mit HIV an und für sich unproblematisch ist. Die Belastung durch erwartete und verinnerlichte HIV-bedingte Stigmatisierung spielte jedoch eine unverhältnismässig grosse Rolle in ihrem Leben. Die Teilnehmer berichteten von wenigen Beispielen für Stigmatisierung im Allgemeinen, erlebten aber manchmal Vorurteile und Diskriminierung im Gesundheitswesen. Die Teilnehmer empfanden das geringe HIV-Wissen der Allgemeinbevölkerung als problematisch im Hinblick auf antizipierte und verinnerlichte Stigmatisierung.

Wo sind die Lösungen?

Zurück an die Konferenz in Glasgow. Es blieb nicht bei der einen Präsentation zum Thema Stigma. Es war das dominierende Thema der Konferenz. Bei mir hat sich der Eindruck verfestigt, dass wir uns im Kreis drehen. Wir riskieren, das Problem zu bewirtschaften statt es zu lösen. Niemand hat auch nur ansatzweise von Lösungen gesprochen oder ein Projekt vorgestellt, welches die eindrücklich beschriebenen Stigmata versucht praktisch anzugehen. Dabei liegt es auf der Hand, das Thema Stigma im Gesundheitssektor mal anzupacken. Offensichtlich brennt es hier am meisten. Gesundheitsfachleute sind auch relativ einfach zu erreichen. Aber noch warten wir auf ein Projekt, welches das Übel an der Wurzel packt.

Hat dies vielleicht gar mit uns Menschen mit HIV etwas zu tun? In einer nächsten Ausgabe wollen wir uns mit dem Thema Selbst-Stigma beschäftigen.

David Haerry / März 2025

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