„Wir haben nicht über HIV gesprochen, sondern über ein «listiges» Virus“ Die Geschichte eines Feriencamps für Kinder aus Russland, die mit HIV leben

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Bild: Marina Nagorova

Vom 6. bis 16. Juni 2021 fand in Südrussland das sechste Sommercamp für Kinder statt, die mit HIV leben. Mehr als 70 Personen, davon 36 Kinder und Jugendliche im Alter von 11 bis 20 Jahren, Eltern und HIV-Fachleute kamen aus verschiedenen Teilen Russlands zusammen. Ihr Ziel: Kindern zu helfen, besser mit der HIV-Diagnose zu leben und mit Stigmatisierung umzugehen.

Kinder und insbesondere Jugendliche mit HIV brauchen besonderen Schutz und Stärkung. Denn sie können sich am wenigsten wehren, wenn sie ausgegrenzt oder stigmatisiert werden. Oft haben sie noch keine Rechte oder niemanden, der sich für sie einsetzt. Das gilt auf der ganzen Welt – Russland ist keine Ausnahme. Heute leben in Russland mehr als 10’000 Kinder mit HIV. Viele von ihnen haben ihre Eltern früh verloren. Die meisten wachsen in Waisenhäusern, einkommensschwachen Verhältnissen, in Einelternfamilien oder bei Grosseltern auf.

Schon sehr früh beginnen Kinder zu verstehen, dass HIV ein Tabuthema ist. Niemand erklärt ihnen, warum sie ständig Tabletten nehmen müssen. Oder warum Erwachsene nicht darüber sprechen wollen. Wenn sie heranwachsen, protestieren sie oft, indem sie ihre antiretrovirale Therapie ablehnen. Infolgedessen sind manche Jugendlichen im Erwachsenenalter gegen viele Klassen antiretroviraler Medikamente resistent.

In Gedenken an Diana
Das Camp 2021 war dem Gedenken an eine junge Frau namens Diana gewidmet, die Anfang des Jahres im Alter von nur 19 Jahren starb. Diana hatte als Jugendliche, wie die meisten in ihrem Alter, die Therapie oft ausgelassen. Deshalb war ihr Immunsystem schwach. Sie hatte an einem früheren Sommer-Camp teilgenommen, wusste alles über HIV und teilte dieses Wissen auch mit anderen Teenagern. Diana verliebte sich in einen jungen Mann. Sie hatte jedoch solche Angst, ihn zu verlieren, dass sie die Therapie abbrach, um sich nicht versehentlich zu verraten. Diana wurde schwächer und schwächer, die Ärzte waren machtlos.

Wie alles anfing
Die Sommercamps werden von zwei Frauen organisiert. Beide sind Profis auf ihrem Gebiet und kombinieren die unterschiedlichen Bereiche Medizin und Aktivismus: – Ekaterina Stepanova und Svetlana Izambayeva. 2008 gründete Svetlana eine gemeinnützige Stiftung, die nach ihr benannt wurde. Seitdem hilft die Stiftung Frauen, Kindern und Jugendlichen, die mit HIV leben oder davon betroffen sind.
Angefangen hat alles mit einem Training für Kinder und ihre Eltern, das Svetlana und Ekaterina innerhalb der Mauern der Aids-Klinik in Kasan (Tatarstan, Russland) organisiert hatten. Dort gab es erste Versuche von Erwachsenen, mit Kindern über HIV zu sprechen. „Wir haben es geschafft, 15 Kinder zusammen zu bringen. Wir waren uns nicht sicher, wer von ihnen über den eigenen HIV-Status Bescheid wusste, und hatten Angst vor unvorhersehbaren Reaktionen “, erinnert sich Svetlana. „Deshalb haben wir beim ersten Training mit Kindern nicht über HIV gesprochen, sondern über ein «listiges» Virus. So konnten wir auch erklären, dass wir schlau sein müssen, um das Virus mithilfe der Medikamente zu überlisten.“

Das Training hat gezeigt, dass es notwendig und wichtig ist, mit Kindern über HIV zu sprechen. Danach begann Svetlana, Einzeltreffen und später Selbsthilfegruppen mit Kindern abzuhalten, in denen sie offen über HIV sprechen konnten. Bei einem dieser Treffen sagte das Mädchen Elena, dass sie andere Kinder mit HIV aus anderen Städten treffen möchte. Und dass sie davon träumt, ans Meer zu fahren. So entstand die Idee eines Kindercamps.

Das Camp entwickelt sich
2017 fand in Sotschi das erste Ferienlager für Kinder statt, die mit HIV leben. Es nahmen Kinder und Jugendliche aus verschiedenen Städten Russlands und Kasachstans teil. Sie kamen aus Waisenhäusern, manche mit ihren Eltern. Seither wird das Camp-Programm Jahr für Jahr erweitert, ergänzt durch neue interaktive Übungen und Spiele. Heute können sich weder Ekaterina noch Svetlana genau erinnern, wie es zu der Idee kam, «Quests» für Kinder durchzuführen. Quests, also Suchspiele, helfen den Kindern, sich besser an nützliche Informationen zu erinnern. Die Quests wurden zu einem festen Bestandteil des Camps, ebenso wie das Verbrennen einer symbolischen Stigma-Puppe und viele andere Übungen.

Svetlana und Ekaterina engagieren sich gemeinsam für das Sommercamp. Sie kümmern sich um logistische Aufgaben, rekrutieren Teilnehmende, führen Informationsveranstaltungen und Übungen durch und abends überwachen sie die Sicherheit der Kinder. In den restlichen Monaten des Jahres versuchen sie, Gelder für das nächste Camp zu sammeln. Und das ist inzwischen die grösste Herausforderung für sie.

Wird das Camp wieder angeboten?
2021 haben Life4me.plus und UNAIDS die Organisation des Camps finanziell unterstützt, so dass das Sommerlager stattfinden konnte. Der Lohn: Glückliche Kinder und Erwachsene, die in diesen Tagen zu Verwandten geworden sind, fuhren mit der Hoffnung auf ein nächstes Treffen nach Hause. Die Beteiligten hoffen, dass die 36 Kinder und Jugendlichen ein glückliches Leben führen und alle Hindernisse überwinden können. Und dass sich bei keinem von ihnen das Schicksal von Diana wiederholen wird. Es ist zu hoffen, dass Svetlana und Ekaterina und das gesamte Team sich weiterhin mit gleicher Kraft und Anstrengung engagieren.

Die mehr als zehntausend Kinder und Jugendliche mit HIV In Russland brauchen Unterstützung. Wenn alle fürsorglichen Menschen das Camp dauerhaft mit den nötigen Spenden unterstützen, wird diese Kette des Guten nicht unterbrochen. Dann können weitere Kinder das Camp besuchen. Und die Welt mit ihrem Lächeln ein bisschen freundlicher machen.

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Bild: Marina Nagorova

Alex Schneider / Juni 2021

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