IAS 2023 Brisbane – Genfer HIV-Patient geheilt
Internationale AIDS-Konferenz Brisbane (AUS), 20. Juli 2023: Schon wieder wurde ein HIV-Patient als geheilt erklärt. Zum ersten Mal gelang dies in der Schweiz, genau gesagt in Genf. Zum sechsten Mal gelang eine Heilung im Zusammenhang mit einer Stammzell-Transplantation, doch die Umstände sind spektakulär: die Spenderzellen hatten keine CCR-5 Mutation, wie in den früheren fünf Fällen.
Die Daten werden erst am 24. Juli hier in Brisbane im Rahmen der Internationalen AIDS-Konferenz vorgestellt. Wir berichten aus der gestrigen Pressekonferenz, wo der Fall bereits geschildert wurde.
Der als „Genfer Patient“ bezeichnete Mann ist die letzte Person, welche nach einer Stammzellentransplantation von HIV geheilt wurde. Im Unterschied zu den früheren fünf bekannten Fällen erhielt er jedoch Stammzellen von einem Spender, der nicht über die seltene CCR-5 Mutation verfügt, welche das Eindringen von HIV in Zellen verhindert. Auch 20 Monate nach Absetzen der antiretroviralen Therapie ist bei dem Mann kein HIV mehr nachweisbar.
„Was mir widerfahren ist, ist wunderbar und magisch“, sagte der Genfer Patient in der Presseerklärung. Er ist in den frühen Fünfzigern. 1990 erhielt er die HIV-Diagnose und seit 2005 eine erfolgreiche antiretrovirale Therapie. Später erkrankte der Mann an einem seltenen und aggressiven Sarkom. Er wurde mit einer Chemotherapie und Ganzkörperbestrahlung behandelt. Im Juli 2018 erhielt er eine Stammzell-Transplantation.
Sein Spender hatte aber keine CCR5-Delta-32-Mutation wie in den früheren Fällen. Diese Mutation schaltet einen Rezeptor aus, den die meisten HI-Viren nutzen, um in die CD4-Zellen einzudringen. Man hat offenbar nach solchen Stammzellen gesucht, doch es waren keine kompatiblen Spender mit dieser Mutation verfügbar, sagte der in den Fall involvierte Dr Asier Sáez-Cirión vom Pasteur Institut in Paris. Nach der Transplantation wurde der Mann wie erwartet von seinem seltenen Krebs geheilt – und gänzlich unerwartet auch von HIV.
Alle Immunzellen des Patienten stammen heute von seinem Spender. Nach dem Eingriff wurde er wie üblich mit verschiedenen immunsuppressiven Medikamenten behandelt. Drei Jahre nach der Transplantation wurde die antiretrovirale Therapie im November 2021 unter strenger Überwachung unterbrochen. Danach nutzte er zweimal eine Prä-Expositionsprophylaxe PrEP auf Abruf[1]. Zwanzig Monate später ist die Viruslast des Mannes immer noch nicht nachweisbar. Auch ultrasensitive Nachweisverfahren sind negativ. Nach der Knochenmarktransplantation gingen die HIV-DNA in seinen T-Helferzellen und in seinem Knochenmark drastisch zurück. Die beteiligten Forscher konnten keine intakten Viren mehr finden. Auch seine HIV-Antikörper nahmen allmählich ab. Möglicherweise konnte der Mann tatsächlich sämtliche HI-Viren eliminieren.
Der Fall ist rätselhaft, denn niemand hat eine plausible Erklärung, weshalb und wie der Genfer Patient geheilt wurde. Das Studienteam in Genf sagt denn auch, man könne die Möglichkeit nicht ausschliessen, dass sich das Virus noch irgendwo in einem Rückzugsgebiet verstecken könnte. «Wir hoffen, das Nachlassen von HIV-Symptomen sei wirklich dauerhaft und das HI-Virus ist vollständig eliminiert. Eine Wiederkehr des HI-Virus kann man aber zum jetzigen Zeitpunkt nicht ganz ausschliessen», sagte Sáez-Cirión.
Bisher geheilte Patienten und offene Fragen
Nur wenige Menschen sind nach einer Stammzelltransplantation von HIV geheilt worden. Der erste, Timothy Ray Brown – bekannt als der „Berliner Patient“ – erhielt 2006 zwei Transplantationen zur Behandlung von Leukämie. Sein Onkologe kam erstmals auf die Idee, Stammzellen mit der CCR5-Delta-32-Mutation zu verwenden, und spekulierte, dass damit sowohl Krebs als auch HIV geheilt werden könnten. Das ist gelungen, Timothy Brown wurde ein zweites Leben geschenkt. Brown starb im September 2020 an einer wieder aufgeflammten Leukämie. Von HIV war er wirklich geheilt.
Adam Castillejo, bekannt als „Londoner Patient“, wurde nach einer Stammzelltransplantation zur Behandlung eines Hodgkin-Lymphoms von einem Spender mit einer doppelten CCR5-Delta-32-Mutation geheilt. Er erhielt eine weniger aggressive Chemotherapie als Brown und entwickelte eine mildere Graft-versus-Host-Krankheit (Transplantat-gegen Wirt). Castillejo setzte seine HIV-Therapie im September 2017 ab. Er gilt als geheilt.
An der Retrovirenkonferenz CROI 2022 berichteten Forscher aus New York City von einer an Leukämie erkrankten Frau mittleren Alters, die eine Transplantation mit einer Kombination aus Nabelschnurblutzellen mit der CCR5-Delta-32-Mutation und teilweise passenden Stammzellen eines Verwandten erhielt. Drei Jahre nach der Transplantation setzte sie ihre HIV-Therapie ab. Auch sie gilt als geheilt.
Ein paar Monate später, auf der Internationalen AIDS-Konferenz 2022, berichteten Forscher von Paul Edmonds, einem Mann aus Südkalifornien, der Anfang 2019 ebenfalls eine HIV-resistente Stammzelltransplantation erhielt. 2021 setzte er die HIV-Therapie ab. Er ist weiterhin in der sogenannten Langzeitremission. Weil Paul Edmonds älter ist, erhielt er eine weniger harte Chemotherapie und entwickelte nur eine leichte Graft-versus-Host-Krankheit. Edmonds gilt noch nicht als geheilt.
Der „Düsseldorfer Patient“ Marc Franke erhielt vor mehr als zehn Jahren eine Stammzelltransplantation, ebenfalls von einem Spender mit einer doppelten CCR5-delta-32-Mutation. Er setze seine HIV-Therapie vor fast fünf Jahren ab. Er gilt seit der Retrovirenkonferenz 2023 als geheilt.
Die Forscher arbeiten immer noch daran, herauszufinden, warum diese Patienten nach einer Stammzellentransplantation geheilt wurden. Andere Versuche sind nämlich fehlgeschlagen. Bislang ging man aber davon aus, dass die Verwendung von Stammzellen eines Spenders mit einer doppelten CCR5-Delta-32-Mutation für eine Heilung entscheidend ist. In diesem Sinne ist der Genfer Fall besonders aufsehenerregend. Dieser wirft Fragen auf über die Begleittherapie, der Transplantat-gegen-Wirt-Reaktion und der zu ihrer Behandlung eingesetzten immunsuppressiven Medikamente. Insbesondere erhielt der Genfer Patient viele Jahre lang Ruxolitinib, um die anhaltende Graft-versus-Host-Krankheit in den Griff zu bekommen, und die im Fall involvierte Genfer Ärztin Alexandra Calmy meint, dass dies einen Einfluss auf die Verringerung des Reservoirs und das Ausbleiben eines viralen Rebounds gehabt haben könnte.
Soll man jetzt nach Genf fahren und sich heilen lassen?
Man kann es nicht genug betonen: Eine Stammzelltherapie oder Knochenmarktransplantation ist sehr teuer, sehr aufwendig, sehr riskant und wirklich kein Sonntagsspaziergang. Erstens muss ein Spender gefunden werden, dessen Blutstammzellen mit dem Empfänger übereinstimmen. Trotz internationalen Datenbanken gibt es das nur selten. Die anschliessende Prozedur ist kompliziert und mit schweren Nebenwirkungen verbunden. Beim Empfänger müssen erst mit einer harten Chemotherapie die eigenen Blutzellen vernichtet werden. Sind die Spenderzellen verabreicht, so muss ein Angriff derselben gegen den neuen Körper mit starken, das natürliche Immunsystem unterdrückenden Medikamenten unterbunden werden.
Auch muss der Empfänger muss körperlich fit sein, sonst überlebt er den Eingriff nicht. Es gibt auch keine Garantie, dass die neuen Zellen langfristig funktionieren oder nicht nach ein paar Jahren den neuen Körper zu attackieren beginnen.
Zu guter Letzt: die heutigen HIV-Therapien sind derart gut und verträglich, dass man niemandem das Risiko und die Belastung einer Knochenmarktransplantation zumuten kann, wenn nicht eine andere sehr schwere Erkrankung diesen Eingriff erforderlich macht. Die als geheilt bekannten Patienten erfüllten alle diese Voraussetzung – sie wären ohne Stammzelltherapieversuch gestorben.
Wissenschaftlich ist der Genfer Fall hochinteressant. Er wird sicher zu weiteren Studien führen. Und vielleicht irgendwann einmal auch zu einer wirklichen Heilung, wer weiss. Die Hoffnung besteht weiterhin, doch ist sie noch sehr weit weg.
David Haerry / Brisbane, 21. Juli 2023
[1] Eine PrEP auf Abruf oder bei Bedarf ist ein zeitlich begrenzter Einsatz der PrEP für ein Wochenende oder Ferien, wenn sich das Risiko einer HIV-Infektion erhöhen könnte.
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