Mein Outing, Teil 2

Ende November 2024 habe ich im Magazin Mannschaft über mein Leben mit HIV gesprochen, zum ersten Mal öffentlich, mit vollem Namen. Noch immer steckt eine Restangst in mir – «Was denken die Leute nun von mir?», – doch sie schwindet zusehends im alltäglichen Leben. In einem anderen Bereich ist die Angst noch immer da, so richtig. Nämlich dann, wenn es um Sex geht. Ich habe Angst, dass die Männer sprichwörtlich den Schwanz einziehen: dass ihre Angst sie trotz U = U verjagt. Denn U= U ist Wissen, Angst ist Emotion.

Mit der Diagnose im Sommer 2023 wurde Sex zu meinem Schreckgespenst, zur Verkörperung allen Übels. Ich glaubte, nie mehr in meinem Leben Sex zu haben. Ein paar Monate später wagte ich die Flucht nach vorne: Ich reaktivierte meinen Bumble-Account und hatte tatsächlich ein paar Dates. Mit Sex. Drei Typen insgesamt. Ich wollte vor allem meine Furcht vor körperlicher Nähe überwinden. Das zumindest sagte mir mein Kopf, während meine Seele in tiefer Verzweiflung steckte, lechzend nach Liebe und Bestätigung.

Meinen Serostatus verschwieg ich bei allen drei. Ich behielt meine HIV-Diagnose auch dann noch geheim, als sich eines der Dates zu einer halbwegs ernsthaften Geschichte entwickelte.

Das Ei, das ich mir damit legte, musste ich dann ein gutes halbes Jahr später ausbrüten: Kurz bevor der Bericht auf Mannschaft und auf 360.ch online publiziert wurde.

Herbst 2024: Nun sollen die drei Männer von mir persönlich erfahren, was ich ihnen verschwiegen habe. Sie sollen nicht per Zufall online darüber stolpern. Ich bin mir dies und vor allem allen, die mit HIV leben, schuldig. Ich bin es meiner Community schuldig.

Ich will «meinen» Männern nicht den Schock des Lebens verpassen und ein schlechtes Bild von Menschen mit HIV abgeben, bloss weil ich selbst zu feige war, zu HIV zu stehen.

Mein erster Mann, mit dem ich nach der Diagnose im Bett war, ist auch der erste, dem ich es sage. Es ist kein Zufall. Zwischen uns ist eine Freundschaft entstanden. Als wir zum ersten Mal miteinander geschlafen haben, fehlten uns die Präservative. Wir tatens trotzdem. Wir wollten diese Chance nicht verstreichen lassen – wir beide hatten zu sehr Lust auf nackte Körper und Leidenschaft.

Nun, gut ein halbes Jahr später, kommt er zu mir, bald sind wir nackt im Bett, doch dann sage ich: Sorry, es geht grad nicht. Ich lege mich neben ihn, mir kommen die Tränen. Dann fange ich an, zu erzählen: vom Medizinischen, dass ich eine Diagnose habe, happig, aber etwas, das ich nicht weitergeben kann. Ich habe Riesenbammel, bevor ich sage: Es ist HIV. Ich zeige ihm meine letzten Resultate: «RNA nicht nachweisbar».

Er bleibt stumm. Dann sagt er: «Jeder hat eine Krankheit. Andere haben Krebs. Mein ältester Bruder hat auch HIV». Dann dreht er sich ab, greift zu seinem Handy. Ich bin sicher, er wird nun sagen: «Oh, schon so spät, ich muss gehen.» Er sagt aber: «Ich will dir ein Foto von meinem Bruder zeigen. Vielleicht willst du mal mit ihm reden, das könnte dir gut tun.»

Wir liegen weiter nebeneinander, reden über uns, was wir im Leben wollen, ob wir uns verliebt haben oder nicht. Er ist gnadenlos ehrlich. Es tut gut. Ich streichle seine Brust. Dann haben wir nochmals Sex, nochmals ungeschützt. OHNE Präservativ. Er ist unglaublich. Er ist meine Erlösung, meine Rettung. Das zweite Mal schon.

Beim zweiten Mann ist es schwieriger. Wir haben uns während fast fünf Monaten getroffen. Manchmal fast jede Woche. Er hatte nie auch nur daran gedacht, ein Kondom aus seiner Schublade hervorzuholen. Nachdem ich ein, zwei Male versucht hatte, das Präservativ ins Gespräch zu bringen, fand ich: Auch egal, denn die schlimmste Krankheit, die man kriegen kann, habe ich schon. Ich wusste aber vor allem auch, dass ich nichts weitergeben kann. 

Bild: Mannschaft

Immer wieder hatte mich aber sanft mein schlechtes Gewissen eingeholt. Eines Abends fing ich an, von HIV zu sprechen. Er lenkte mit einem solch heftigen Schwenker vom Thema ab, dass ich mich fragte: Warum meidet er das Thema wie der Teufel das Weihwasser? Ist er etwa auch positiv?

Schlussendlich war die Geschichte mit ihm leider eine der unehrlichen Sorte. Da waren zu viele schwammige Wörter, leere Versprechen, verletzendes und respektloses Verhalten mir gegenüber. So, dass ich den Kontakt abbrechen musste.

Nun, einen guten Monat später, melde ich mich wieder bei ihm. Er ist tatsächlich für ein Gespräch zu haben. Ich schreibe davor zuhause zwei A4-Seiten voll und formuliere aus, was ich ihm wie erzählen will. Ich will Verständnis für mich und mein Verhalten wecken. Denn ich weiss nicht, wie es ist, zu erfahren, dass die Sexualpartnerin, mit der ein Mann während fast eines halben Jahres ohne Verhütung gevögelt hat, mit HIV lebt. Es muss ein Schock sein. Das ist es dann auch, doch der Grund liegt anderswo.

Ich weiss, dass ich damit rechnen muss, dass er mich aus seiner Wohnung schmeisst, nachdem ich es gesagt habe.

«Was wolltest du mir sagen?», fragt er mich, als wir bei ihm im Wohnzimmer auf den Fauteuils sitzen. Ich fange an, zu erzählen. Von meinem Zusammenbruch, kurz bevor wir uns kennengelernt haben. Dass der Grund eine Diagnose war, die nicht schlimm ist, nicht ansteckend, aber happig. Ich sage: «Kann ich deine Hand halten?» Ich halte seine Hand, schaue ihn an und sage: «Das Wichtigste im Ganzen ist, dass du weisst, dass ich es dir nicht weitergeben konnte. Du warst immer sicher.»

Er schaut mich neugierig an. Ich sage: «Ich lebe mit HIV.» Er lehnt sich im Sessel zurück.

Ich sage: «Du warst 100 Prozent safe, die ganze Zeit.» Ich sage ihm auch, dass ich dachte, er habe es vielleicht auch.  

«Nein, nein», sagt er. «Ich fand es einfach unnötig, über HIV zu sprechen. Was du sagst, ist ein Weckruf. Gut, dass ich es mir bewusst werde.»

Ich sage: «Ich weiss, es macht Angst, vor allem, wenn man ein risikoreiches Sexualverhalten hat.» Denn das hat er.

Er meint: «Ich kenne keine solchen Leute, die Drogen nehmen und so.»

Ich: «Wie meinst du das? Alle Betroffenen, die ich kenne, sind ganz normale Leute. Alle Frauen, die ich kenne, haben HIV von ihrem Freund oder von ihrem Mann.» Das sitzt.

Dann sagt er: «Ich werde von nun an immer ein Kondom benutzen.» Und daraufhin: «Ich bin müde, ich muss mich hinlegen. Ich weiss nicht warum, es muss der Alkohol sein.»

Ich weiss, es ist nicht der Alkohol. Er schmeisst mich nicht aus der Wohnung. Er will, dass ich mich zu ihm ins Bett lege.

Als wir später essen, bringt er kaum einen Bissen runter: Es hat ihm sprichwörtlich den Appetit verschlagen. Er legt sich wieder hin, ich esse weiter, gehe danach zu ihm ins Bett und sage: «Ja, es ist happig, es macht Angst, ich weiss.» — «Nein, ich habe nicht Angst», meint er. «Es ist einfach ein Weckruf. Eine Bewusstwerdung. (Prise de conscience)»

Kurz darauf haben wir Sex. Das erste Mal überhaupt zieht er sich ein Kondom über. Ich sage: «Wir brauchen keins. Ich kanns nicht weitergeben, Chlamydien und Gonorrhoe habe ich auch nicht.» Er sagt dann, er habe doch beschlossen, nun immer ein Präservativ zu benutzen. Ich sage nochmals, bei mir brauche er keins, um sich zu schützen, ich sei 100 Prozent safe. Dann meint er: «Ich will andere schützen.» Das glaube ich ihm aber eigentlich nicht. Er hat das vergangene halbe Jahr kreuz und quer gevögelt und keine Sekunde lang daran gedacht, mich zu schützen. Nun plötzlich will er das? Unwahrscheinlich.

Ich sage es auch dem dritten meiner Dates. Ich habe ihn ein halbes Jahr nicht mehr getroffen. Wir sitzen bei mir auf dem Sofa. Ich erzähle es ihm schnell in wenigen Sätzen, es ist eine Pflichtübung. Wir hatten meistens verhütet.

Er sagt verständnislos: «Warum hast du es nicht einfach gesagt?»

«Weil ich nicht konnte. Ich hatte Angst.»

«Du hättest es doch einfach sagen können.»

«Nein, es ging nicht. Ich hatte Angst vor Ablehnung.»

«Man sollte keine Angst haben.»

«Ich hatte aber. Mein seelischer Zustand war nicht gut.»

«Man sollte ehrlich sein können.»

«Ich bin jetzt ehrlich.»

«Man muss solche Sachen offen sagen.»

«Nein, ich muss es überhaupt nicht sagen. Ich müsste es auch jetzt nicht sagen. Ich hätte schweigen können, fand es aber wichtig, nun offen zu sein.»

«Warum hast du es nicht gleich gesagt?»

«Ich tue es jetzt. Du warst immer safe, das ist das Wichtigste.»

«Du hättest doch keine Angst zu haben gebraucht?»

«Ich weiss nicht, wie du kulturell geprägt bist, wie du HIV oder Aids erlebt hast. Vielleicht hättest du mich dann verurteilt.»

«Diskriminierung gibt es nur in Europa. In Afrika gibt es das nicht.»

«Da kenne ich ganz andere Geschichten. Aus Nigeria beispielsweise.»

«Ach, das ist Nigeria. Bei uns in Gambia gibt es keine Diskriminierung.»

Unser Gespräch ist ein absurder Disput: Er will mir erklären, wie ich zu fühlen und zu handeln habe. Dass es Angst im Zusammenhang mit HIV nicht gäbe. Er hat keine Ahnung. Wir haben danach zwar noch Sex – kurz und geschützt wie immer. Als er geht, bin ich froh.

Drei Männer. Ich schwöre mir, in Zukunft mit keinem einzigen mehr ins Bett zu gehen, bevor ich es ihm nicht gesagt habe. Es erspart mir ein schlechtes Gewissen und Vorwürfe von Vertrauensmissbrauch. Doch es dauert nicht lange, und ich breche meine eigene Regel. Meine Angst vor Zurückweisung ist nach wie vor viel zu gross.

Denn es ergibt sich bald darauf etwas, das von Beginn an Herz und Seele hat. Doch ich kann meinem guten Gefühl nicht vertrauen und mache alles falsch, was ich falsch machen kann. Meine Lust auf Sex ist gross, meine Angst, abgewiesen zu werden, ebenso. Ich entscheide mich für Egoismus. Als ich ihm nachher sage, dass ich mit HIV lebe, ist es, als hätte ich eine Bombe zum Explodieren gebracht. Die pure Katastrophe. Danach will ich sterben.

Er ist vor allem enttäuscht, dass ich nicht aus meiner Stärke, sondern aus meiner Schwäche heraus agiert habe, aus der Angst vor dem Stigma. Dass ich seine aufrichtige Zuneigung zu mir nicht genügend respektiert habe.

Noch sind wir beide daran, zu verarbeiten, was passiert ist. Nach sehr ernsten und tiefgreifenden Gesprächen per Videocall hatten wir auch wieder wunderbar lustige, blödsinnige und herzerwärmende Live-Chats mit viel Zuneigung. Er ist ein Mensch, dem ich keine Ausreden bringen kann. Ein wahres Gegenüber, so wie man es sich’s nur wünschen kann. Ich sage ihm, dass ich dankbar bin, einen Menschen wie ihn kennengelernt zu haben.

Wir wollen uns wiedersehen. Aber natürlich traue ich nach wie vor meinem guten Gefühl nicht ganz. Aber ich bin dran, es zu tun. Mein Weg seit der Diagnose war und ist ein Marathon, ich bin noch immer auf meinem Weg.

Ich habe gelernt, dass uns die Angst definitiv auf falsche Wege leiten kann. Dass wir damit nicht nur uns selbst verstecken, sondern auch andere verletzen können. Das will ich nicht mehr.

Claudia / Januar 2025

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