Sollen HIV positive Menschen fliegen dürfen?
Sind HIV-positive Piloten vollwertig flug- und arbeitstauglich? Die Vorschriften der europäischen Flugsicherheitsbehörde lassen das im Moment noch nicht zu. Wir haben in München an der Welt-Aidskonferenz Sven Dierssen getroffen. Der Lufthansa-Pilot setzt sich mit grossem Einsatz für eine Änderung der veralteten Regelungen ein.
DH: Du bist Pilot bei der Lufthansa und fliegst Boeing-Maschinen um die Welt: Was machst Du an einem HIV-Kongress in München?
Sven Dierssen: Ganz einfach: Ich lebe und fliege seit einigen Jahren mit HIV. Mein Interesse am Thema liegt also auf der Hand. Die Motivation hier zu sein, wurzelt jedoch in den Erfahrungen, die ich als Verkehrspilot mit HIV machte. Mit dem Tag der Diagnose wurde ich fluguntauglich und konnte, obwohl ich bei bester Gesundheit war, von einem Tag auf den anderen meinen Beruf nicht mehr ausüben. Ich sah meinen Lebenstraum und meine wirtschaftliche Lebensgrundlage in Gefahr.
Medizinisch war zwar recht schnell klar, dass ich relativ normal weiterleben konnte. Aber egal wo und wie intensiv ich suchte: Es war unmöglich Kontakt zu anderen betroffenen Pilot:innen herzustellen und niemand konnte mir sagen, wie es beruflich weitergeht. Wie offen ich im Arbeitsalltag mit der Infektion umgehen kann, wen ich hierüber informieren muss oder sollte, ob sie Auswirkungen auf das Miteinander im Kollegenkreis oder meine Karriere haben könnte, und welche Aspekte in der Fliegerei sonst noch zu bedenken waren.
2022 begann ich allmählich offener mit der Infektion umzugehen und lernte einen jungen Kollegen kennen, der gerade kürzlich seine Diagnose erhalten hatte. Er musste seine Ausbildung unterbrechen und er hatte Angst keinen Job zu finden. Er stellte sich exakt die gleichen Fragen wie ich zuvor und fand ebenfalls keine Antworten.
So begann die Vernetzung mit positiv.Arbeiten, des European Pride in Aviation Network EPAN und der Vereinigung Cockpit, was mich schliesslich zur AIDS2024 führte.
Denis Duarte, Matthias Reinacher und Sven Dierssen im Juli in München
DH: Du hast eine Gruppe gegründet, welche sich für Piloten mit HIV einsetzen will. Seid Ihr viele, und wie geht Ihr vor?
Sven Dierssen: Wir sind eine gute Hand voll Leute. Aktiv und sichtbar sind, neben mir, Denis Duarte und Matthias Reinacher, die ihre wissenschaftliche Expertise einbringen. Die betroffenen Piloten möchten bisher nicht sichtbar sein.
Wir denken, dass es an der Zeit ist, die europäische Verordnung über die Flugtauglichkeit von Pilot:innen mit HIV zu überarbeiten. Hierfür wollen wir eine Forschungsgruppe ins Leben rufen, die die Auswirkungen von HIV auf die Flugtauglichkeit untersucht. Positive.skies ist neben der Vereinigung Cockpit, in deren Namen ich hier bin, ein Bindeglied zwischen Wissenschaft und anderen Nichtregierungsorganisationen. Gemeinsam wollen wir bei der Europäischen Agentur für Flugsicherheit einen Reformprozess anstossen. Mit unserem Vortrag im Global Village hoffen wir Interesse für die Gründung dieser Forschungsgruppe zu wecken.
DH: Die flugmedizinischen Prüfungen sind streng, ein harter Brocken, und europaweit gültig. Was braucht es, um Änderungen zu erreichen?
Sven Dierssen: Im Interesse der Flugsicherheit verwehrten die europäischen Gesetze HIV-positiven Menschen lange Zeit den Zugang zum Cockpit. 2008 erlaubten die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Wirksamkeit der ersten antiretroviralen Medikamente jedoch eine Gesetzesänderung. Fortan konnten Piloten nach einer HIV-Diagnose ihre Flugtauglichkeit grundsätzlich wieder erlangen.
Allerdings schien auf Grundlage der damals zur Verfügung stehenden Daten eine Beeinträchtigung der Flugsicherheit durch therapiebedingte Nebenwirkungen und eventuelle Folgeerkrankungen nicht vollständig ausgeschlossen. Die entsprechende Verordnung sieht deshalb Einschränkungen der Flugtauglichkeit für HIV-positive Pilot:innen vor. Diese schränken nicht nur aktive Pilot:innen in ihrem Arbeitsalltag merklich ein, sondern schliessen auch junge Menschen, die mit HIV leben, faktisch von einer Karriere im Cockpit aus.
Die HIV-Therapie hat sich jedoch enorm weiterentwickelt. Es ist an der Zeit, das seit 2008 nahezu unverändert geltende Gesetz zur Flugtauglichkeit HIV-positiver Pilot:innen auf Basis aktueller Erkenntnisse neu zu bewerten.
DH: Habt ihr eine Übersicht über die Situation in verschiedenen Ländern in Europa?
Sven Dierssen: Die rechtliche Situation in Europa ist ziemlich einheitlich, da die Vorgaben aus Brüssel in der ganzen EU gelten und in nationales Recht umgesetzt werden. Einzig Moldawien legt die Verordnung wohlwollend aus und ermöglicht Menschen mit HIV das Pilotentraining. In Großbritannien hat James Bushe 2021 eine Änderung der Regularien erwirkt. Seitdem können Menschen, die mit HIV leben, dort problemlos fliegen lernen und Pilot:in werden.
DH: Macht ihr alles auf eigene Faust, oder kriegt ihr Unterstützung?
Sven Dierssen: Wir haben den Support des deutschen und des europäischen Berufsverbandes. Sie agieren auf politischer Ebene und unterstützen uns mit ihrer Expertise. Darüber hinaus erhalten wir Unterstützung von einigen nationale Aidshilfen, den Kolleg:innen von EPAN und weiteren Organisationen.
Zusammen haben wir hoffentlich genügend Reichweite, um andere Betroffene zu erreichen, falls dies für die Realisierung einer Studie zur Flugtauglichkeit von HIV-positiven Pilot:innen notwendig wäre.
Und natürlich wäre es toll, mit weiteren Betroffenen in Austausch zu treten, um die Sache gemeinsam voranzutreiben.
DH: Hattest Du persönlich wegen Deinem Status schon mal Probleme beim Arbeitgeber, oder bei der Ein- oder Ausreise wenn Du dienstlich unterwegs bist?
Sven Dierssen: Glücklicherweise nicht. Im Gegenteil: Mein Vorgesetzter wusste bereits über HIV, n = n, Reisebeschränkungen etc. Bescheid. Er hatte Verständnis für meine Situation und unterstützte mein Engagement schon bei mehreren Gelegenheiten. Auch bei Grenzübertritten hatte ich noch nie Probleme. Gleichwohl waren Reisen z.B. in den Nahen Osten, bei denen ich meine Medikamente in Vitamindosen „versteckte“, nie wirklich angenehm.
Vereinzelte Kollegen fragen mich, weshalb man denn jetzt unbedingt auch noch offen über HIV sprechen muss. Vor allem von schwulen Kollegen und PrEPstern verwundert mich diese Frage. Gerade sie sollten verstehen, wie sich Stigma und die Angst vor Ausgrenzung und Diskriminierung anfühlt. Und wie befreiend ein „Coming Out“ wirkt, wenn man nichts mehr verheimlichen oder sich verstellen muss.
Der ganz grosse Teil meiner Kolleg:innen reagiert jedoch eher positiv. Ein entspannter und offener Umgang mit HIV schafft auch beim Gegenüber Vertrauen und Offenheit. In der Luftfahrt, wo Teamwork und gute, offene Kommunikation elementar für die sichere Flugdurchführung sind, ein spannender Aspekt.
Das Interview wurde schriftlich geführt.
Wie sieht es für Piloten mit HIV in der Schweiz aus?
Wir haben bei Caroline Suter, Leiterin HIV & Recht der Aids-Hilfe Schweiz nachgefragt.
Caroline Suter: „Wir hatten bis zum letzten Jahr – meines Wissens – nie einen Piloten in der Beratung, nur generelle Anfragen zum Thema. Nun haben wir einen Flugkapitän in der Beratung, der im Ausland lebt und bei einer ausländischen Fluggesellschaft in der EU angestellt ist. Er fliegt mit einer Schweizer Medical License, hat aber den Fliegerarzt nie über die HIV-Infektion informiert. Ein HIV-Test wird im Rahmen der vertrauensärztlichen Untersuchung in der Schweiz nicht durchgeführt. Er würde eigentlich gerne seinen Arbeitgeber bzw. den Vertrauensarzt über die HIV-Infektion informieren, insbesondere, weil es im Vereinigten Königreich, welches der britischen Civil Aviation Authority und nicht der europäischen EASA-Behörde untersteht, 2022 einen Fall gab, in welchem eine Amnestie für Piloten, die ihre HIV-Infektion verschwiegen haben, ausgesprochen wurde. Er hat aber Angst vor allfälligen negativen Konsequenzen.
Gemäss EASA können zwar Personen, die mit HIV leben, Piloten sein, dies ist jedoch mit Einschränkungen verbunden: Man darf nur mit einem Kopiloten fliegen und man muss sich regelmässig umfangreichen Tests unterziehen, die man selbst bezahlen muss und die nicht auf den aktuellsten klinischen Erkenntnissen basieren.
Wir haben in Rücksprache des Klienten eine allgemeine Anfrage an die EASA und ans Budnesamt für Zivilluftfahrt BAZL gemacht, die keine Rückschlüsse auf den Klienten zulassen.“
Die EASA antwortet der Aids-Hilfe:
(…) In Anbetracht der derzeitigen medizinischen Anforderungen an Flugpersonal lautet die Antwort auf Ihre Frage jedoch, dass Bewerber, die ihre HIV-Positivität offenlegen, im Allgemeinen weiterhin die mit ihrer Lizenz verbundenen Privilegien wahrnehmen können, wobei die Komplikationen der HIV-Infektion und etwaige Nebenwirkungen der Behandlung, die sich negativ auf die Flugsicherheit auswirken könnten, genauer überwacht werden.
Das schweizerische BAZL scheint besser informiert und antwortet:
Eine unbehandelte oder ungenügend behandelte HIV-lnfektion oder deren Komplikationen können zu Beeinträchtigungen führen, die zu Fluguntauglichkeit führen. Aus diesem Grund gibt es gesetzliche Regeln zur Flugtauglichkeitsbeurteilung von HIV-infizierten Personen. Ein Antragsteller oder eine Antragstellerin muss gegenüber dem Fliegerarzt nachweisen, dass er oder sie in Behandlung steht und dass sein bzw. ihr Gesundheitszustand stabil ist. Die Praxis des BAZL bezüglich neurologischer/neurokognitiver Verlaufskontrollen basiert auf einer klinischen Beurteilung und dem aktuellen Stand der Medizin.
Eine «Nachmeldung» einer HIV-lnfektion durch einen Lizenzinhaber oder eine Lizenzinhaberin wird als Beitrag zur Sicherheit begrüsst und juristisch nicht verfolgt.
Fazit: Es ist erstaunlich, wie lange europäische Behörden brauchen, um ihre längst überholten Vorschriften betreffend der Berufstauglichkeit von Piloten der Realität anzupassen. Es gibt seit mindestens 15 Jahren keinen Grund mehr, erfolgreich behandelte Menschen mit HIV als Piloten anders einzuordnen als Menschen ohne HIV. Es gab auch nie einen Präzedenzfall, welcher eine Ungleichbehandlung begründen würde.
Wir wünschen Sven Dierssen viel Erfolg und werden berichten, wenn seine Bemühungen Früchte tragen.
David Haerry / November 2024
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