Mein Outing
Vierter August 2023, Morgen früh bei mir zuhause. Auf dem schmalen Teststreifen, der vor mir auf dem Tisch liegt, erscheint der dunkle Strich, dann, ein, zwei Sekunden später der zweite. Ich weiss jetzt: Ich habe HIV. «Scheisse, scheisse, scheisse», sage ich laut zu mir, eile in die Küche, nehme ein Feuerzeug, reisse den Teststreifen aus dem Plastik und verbrenne ihn. Ich will ihn vernichten, so wie ich auch den Virus in mir vernichten möchte.
Ein paar Tage später die doppelte und dreifache Gewissheit aus dem Labor: Ich lebe mit HIV. Mit der Diagnose breche ich innerlich zusammen. Es kommt auch die unausweichliche Gewissheit: Ich kann es niemandem sagen. Nicht meiner Familie, nicht meinen besten Freundinnen. Ich verheimliche jeden meiner gefühlt hundert Arztbesuche, die auf den Test folgen.
Die einzigen, die für mich da sind, die meine vielen Fragen beantworten, die mich beruhigen, wenn ich in Panik gerate oder anfange zu weinen, sind Ärzte und Ärztinnen, Pflegefachfrauen, eine Frau am Telefon von der Psychiatrie und bald auch Romy, meine «Peer» von der Aidshilfe Bern. Sie betreut Frischlinge wie mich, die Gespräch und Trost brauchen. Sie sagt mir: Man muss einfach die Angst überwinden. Ich denke: Ich habe doch gar keine Angst, es jemandem zu sagen. Ich will es bloss nicht sagen. Ich will mir doch einfach erst beweisen, dass ich gut mit HIV leben kann.
Gefangen in alten Bildern
Doch die Wahrheit ist: Ich habe Angst. Vor Vorwürfen, vor Verurteilung, vor Zurückweisung. Dass ich abgestempelt werde. Dass ich nicht mehr als der Mensch gesehen werde, der ich bin. Sondern als HIV, an dem eine Person dranhängt. Dass ich nur noch mitleidig behandelt werde. Mit Samtpfoten. Als wäre ich ein Krüppel, ein Quasimodo, mit roten Pusteln übersät. Die Vorurteile, die ich nicht haben will, stecken tief in mir drin.
Ich spüre meine Scham zwar nicht, aber lebe sie mit meinem Doppelleben aus. In Wellen tauchen die Selbstvorwürfe auf: Wie konnte ich bloss so dumm sein? Ich bin doch aufgeklärt! Warum habe ich mich nicht geschützt?
Bilder: Mannschaft Magazin
Es ist verrückt: Ich bin überzeugt, dass mein Umfeld mich nicht ablehnen wird. Trotzdem wage ich nicht, es jemandem zu sagen. Ich lerne Yannick kennen, er ist 22 Jahre alt, Tiktoker und fast genauso lange positiv wie ich. Einen Monat nach der Diagnose hat er sie schon öffentlich gemacht. Ich brauche Vorbilder wie ihn.
Zusammenbruch als Erlösung
Sieben Monate nach der Diagnose, im März 2024, habe ich einen heulenden Zusammenbruch auf der Arbeit. Plötzlich und endlich komme ich ins Handeln. Ich will nun nur noch eins: endlich damit rausrücken. Tags drauf sage ich es meiner Familie und meiner besten Freundin. Bei allen beginne ich mit den Worten «Es ist ernst, aber nicht schlimm». Danach kommt die medizinische Aufklärung. Ich will nicht, dass sie Angst um mich kriegen. Die Reaktionen? Lieb, verständnisvoll, mitfühlend, abgeklärt. Meine Schwester und die 14-jährige Nichte umarmen mich. Diese fragt: «Was ist dieses HIV genau?» Die 23-jährige Nichte findet: «Ich weiss gar nicht, warum man so ein Brimborium um HIV macht.» Die Frau meines Vaters sagt: «Das ist ja heute nichts Schlimmes mehr, HIV lässt sich ja gut behandeln.»
Ich teile es auch meinem Vorgesetzten und meinem Team mit. Ich habe das Gefühl, ich würde lügen, wenn ich es ihnen weiter verheimliche. Sie reagieren alle gut. Ich erlebe auch, dass sich dadurch andere zu öffnen wagen und nun auch ganz Persönliches preisgeben. Mit der Öffnung erlebe ich viel Menschlichkeit.
«Das Leben lässt sich nicht kontrollieren»
Es ist wie ein Stein, den ich ins Wasser werfe. Es dauert aber noch fast drei Monate, bis ich es einer weiteren Freundin sage. Sie meint: «Warum hast du es nicht früher gesagt?» Denn sie wäre für mich dagewesen. Die Freundinnen und Freunde reagieren erstaunt, manche sind etwas geschockt – allerdings nur, weil sie kaum glauben können, dass ich es sieben Monate geheim behalten habe. Sie sind alle mitfühlend, mit manchen lache ich sogar. Über meine Dummheit, darüber, dass Sex halt einfach gefährlich ist.
Verurteilung oder Vorwürfe? Keine Spur. Im Gegenteil: Wenn ich von meinen Selbstvorwürfen erzähle, sagen sie: «Ach komm! Das Leben lässt sich nicht kontrollieren! Wir alle sind schon Risiken eingegangen.»
Mein Outing im Freundeskreis ist eine unglaubliche Erleichterung. HIV gehört zu mir, wenn ich mich nicht öffnen würde, würde sich eine unsichtbare Wand zwischen mir und meinen liebsten Menschen schieben.
Was mir hilft, über «mein HIV» zu reden, ist die Aidskonferenz in München. Dort sage ich immer wieder – in einem Safe Space von 10’000 Personen – «I’m Claudia from Switzerland. I’m living with HIV for one year.» Und doch fühle ich mich noch wie ein rohes Ei. Oder wie ein frisch geschlüpftes Küken. Gerade raus und noch sehr verletzlich. Der Prozess des Akzeptierens dauert.
Raus in die Welt damit
Im August werde ich für ein Interview auf mannschaft.com angefragt. Ich könnte es anonym geben. Doch einen Monat später entscheide ich spontan: Ich zeige mich, mit vollem Namen und Foto. Ich will ja, dass man über HIV reden können sollte, wie über jede andere Krankheit. Also muss ich mich zeigen, auch wenn ich noch immer etwas Bammel davor habe.
Ich teile meiner Schwester mit, dass ich mich oute. Ich befürchte, dass sie Bedenken hat. Doch sie findet es recht cool, gebe ich in einem Schwulenmagazin ein Interview. Auch der Rest der Familie reagiert gelassen. Ich sage ihnen: «Falls euch jemand darauf anspricht, sagt einfach, sie können sich direkt an mich wenden. Ich rede gerne darüber.»
Irgendwann beschleicht mich aber wieder die Angst: Ist es wirklich richtig, mich zu zeigen? Laufe ich dann mit dem HIV-Stempel rum? Doch nachdem Greg vom Mannschaft-Magazin das Interview mit mir geführt hat, passiert etwas, was ich so nie erwartet habe: Ich fühle mich beschwingt und spüre eine unglaubliche Erleichterung. Ich fühle mich befreit. Mit innerer Stärke und Zufriedenheit.
Das Interview wurde nun gerade erst publiziert: auf Mannschaft.com, gay.ch und 360.ch (französisch). Nun bin ich gespannt, ob es überhaupt Reaktionen gibt. Und bin wohl fast ein bisschen enttäuscht, wenn keine kommen. Ob sich dann jemand das Maul zerreisst? Ich weiss es nicht. Und: Ist egal. Denn ich weiss, das ist der Weg, den ich gehen will. Und muss. Ein innerer Motor treibt mich dazu an.
Im nächsten Newsletter erzähle ich Euch, wie es mit meinem Outing weitergegangen ist.
Love, seid gut zu euch,
Claudia