Die letztjährige LOVE LIFE-Kampagne hat einiges an Kritik provoziert und viel Aufmerksamkeit erhalten. Dieses Jahr ist es auffällig still. Doch wie steht es um die aktuelle Kampagne?

Ein schweissbedeckter Mann oder eine fiebrig schwitzende Frau in weissen Bettlaken sind zurzeit auf Plakaten zu sehen. Vier Beine schauen unter der Bettdecke hervor. Dazu der Claim “Fieber nach Sex ohne Gummi? Sprich mit deinem Arzt über HIV.”

So sieht die neue LOVE LIFE-Kampagne aus. Zielpublikum: Allgemeinbevölkerung, also Herr und Frau Schweizer. Während die letztjährige Kampagne durch nackte Haut zu provozieren suchte, erfolgreich der alten Werber-Weisheit „Sex sells“ folgend – bleibt es dieses Jahr auffällig still. Wir wollen trotzdem Stellung nehmen.

An den aktuellen Plakaten fällt uns vor allem eines auf: Wir sehen offensichtlich kranke Menschen, die das Bett hüten müssen. Und wir fragen uns: Ist das wirklich die korrekte Botschaft für Herr und Frau Schweizer? Nicht nur im Hinblick auf eine aktuelle Studie, die befürchten lässt, dass sich Personen mit anderen als Grippesymptomen oder keinen Symptomen in falscher Sicherheit wiegen (wir berichteten an dieser Stelle schon darüber). Sondern auch das Bild, das von Betroffenen vermittelt wird: das von kranken Menschen.

Jahrelang hat man versucht, die Öffentlichkeit aufzuklären, dass man den Menschen ihre HIV-Infektion nicht ansieht. In den letzten Jahren gingen die Bemühungen, insbesondere der Aids-Hilfe Schweiz, dahin, die breite Bevölkerung und die Arbeitgeber aufzuklären, dass Menschen mit HIV heute voll leistungsfähig sind und nicht öfter krank im Bett liegen als Menschen ohne HIV. Daten dazu gibt es: Die meisten Menschen mit HIV arbeiten, der Grossteil von ihnen in einem Vollzeitpensum.

Weiter wird erneut mit dem Claim “Bereue nichts“ gearbeitet. Dies hatten wir schon bei der letztjährigen Kampagne kritisiert (http://tinyurl.com/po3nzp3). Sollen Menschen mit HIV nun ein Leben lang bereuen? Wie angebracht ist es, mit moralischen Begriffen zu operieren? Wo doch viele Menschen mit HIV Stigma und Schuld verinnerlicht haben? Wo doch Moral in der Prävention leicht zur Ausgrenzung führt? Auf unser Schreiben an die Kampagnenleitung wurde belehrend geantwortet: Der Slogan „Ich bereue nichts. Dafür sorge ich“ sei „zukunftsgerichtet und schliesst HIV-infizierte Menschen nicht aus.“ Und es sei „nicht korrekt zu behaupten, dass die neue LOVE LIFE-Kampagne mit der Umkehrung der 3. Aussage (der oben erwähnte Slogan, die Red.) HIV-Betroffenen Schuld zuweist.“ Das Gefühl von Betroffenen wird von der Kampagnenleitung also als Behauptung gewertet, die falsch sei. So fühlt man sich wohl kaum ernst genommen.

Hat die Vorgängerkampagne STOP AIDS bewusst auf Zeigefinger-Botschaften verzichtet, wird heute offenbar damit gearbeitet. Das ist bedauerlich, denn Diskriminierung und Ausgrenzung von Betroffenen verhindert eine effektive Prävention. Wer will sich testen lassen, wenn er bei einem positiven Testresultat von der Gesellschaft geächtet wird?

Uns scheint: Zusammen mit den griffigen und richtigen Botschaften ist der Kampagnenleitung leider das Fingerspitzengefühl für das Thema abhanden gekommen. Prävention zu betreiben, ohne Menschen auszugrenzen und ohne Moral und moralische Begriffe wie Reue (wo die Frage der Schuld nicht fern ist) zu bemühen, das hatte frühere Kampagnen ausgezeichnet. Es wäre zu wünschen, dass die Sensibilität für das heikle Thema künftig wieder zu spüren wäre. Und dass die Stimmen von Betroffenenseite ernst genommen werden.

Bettina Maeschli / November 2015