Die laufende Kampagne der Aids-Hilfe Schweiz zum Welt-Aids-Tag hat einige Journalisten und Politiker erschreckt. „Ein riskanter Tabubruch“ titelt der Tages-Anzeiger. Eine SVP-Nationalrätin verheddert sich am Mikrofon zwischen Halbwissen, Scheinargumenten und gezielter Empörung. Schauen wir mal genau hin.

Das mutige EKAF Statement vor über zehn Jahren hatte damals eine viel grössere und gar globale Welle der Empörung ausgelöst. Wenn man den Leuten sage, dass sie unter erfolgreicher Therapie nicht mehr ansteckend seien, nehme die Sorglosigkeit zu und HIV gerate ausser Kontrolle, war damals ein häufig gehörtes Argument. Zwar waren die Reaktionen menschlich verständlich. Richtungswechsel machen immer Angst, und unsere Wahrnehmungsfähigkeit ist durch die Vergangenheit geprägt. Mit neuen Fakten und mit der ungewissen Zukunft tun wir uns schwer.

Das damalige EKAF-Statement hatte vor allem zwei beabsichtigte Ziele: Einerseits wollte man der grassierenden strafrechtlichen Verfolgung von Menschen mit HIV in der Schweiz einen Riegel schieben. Es wurden damals Leute verurteilt, die gar niemanden angesteckt hatten, oder die sogar ihren Partner über ihre Infektion informiert hatten. Andererseits wollte man Paare mit Kinderwunsch aufklären, dass sie auf natürlichem Weg ein gesundes Kind zeugen und empfangen konnten.

Natürlich war allen klar, dass man die Botschaft der Nicht-Infektiosität vor anderen möglichen Interessenten nicht verbergen konnte. Man hatte darum für sero-diskordante Paare sorgfältig formulierte Empfehlungen erarbeitet, um das Ansteckungsrisiko möglichst kleinzuhalten. Die von HIV betroffenen Menschen haben diese Botschaft dankbar, ja begeistert aufgenommen.

Gute Studienlage dank EKAF-Statement

Das EKAF-Statement hat weitere Studien inspiriert, und wir verfügen heute über eine wissenschaftlich abgesicherte Grundlage, um die Kommunikation weiter zu verfeinern.

In den europäischen Studien PARTNER 1 & 2 gab es 130‘000 mal ungeschützten Geschlechtsverkehr ohne eine einzige HIV-Übertragung innerhalb der Partnerschaft. Rund 20 Personen haben sich ausserhalb der Beziehung mit HIV infiziert.

Nach dem EKAF-Statement war der Kondomgebrauch in der Tat rückgängig. Sexuell übertragbare Infektionen wie Chlamydien, Gonorrhöe und Syphilis nahmen zu – nicht aber die Zahl der HIV-Infektionen. 2008, im Jahr des Statements, ging die Zahl der Neudiagnosen in der Schweiz um 20% zurück und blieb danach bis 2016 einigermassen stabil. Erklären lässt sich diese nur in der Schweiz beobachtete Entwicklung mit einer damals begonnenen Studie innerhalb der HIV-Kohorte, welche Patienten bereits während der hochansteckenden Primo-Infektion therapierte.

Paradoxe Situation

Viele Menschen mit HIV erlebten in den zehn Jahren seit dem Statement ein Paradox. Sie wussten nun, dass sie nicht mehr ansteckend sind. Für die Therapietreue ist das unglaublich motivierend. Sie merkten aber auch, dass die Botschaft ausserhalb des Fachpublikums nicht angekommen ist. Ob in schwulen Kreisen oder unter Heteros – Menschen mit HIV blieben Parias. Die Rekordzahl an Diskriminierungsmeldungen der Aids-Hilfe Schweiz im Jahr 2018 legt für die abstruse Situation ein beredtes Zeugnis ab.

Höchste Zeit, etwas zu tun, sagte sich die Aids-Hilfe Schweiz und lancierte die besagte Kampagne. Die verunsicherten Reaktionen zeigen bloss, wie nötig diese Arbeit immer noch ist. Es geht darum, die verbreiteten Ängste unserer Mitmenschen ohne HIV mal anzusprechen, wahrzunehmen und als unbegründet zu entlarven. Sex ist und bleibt ein unsicheres Geschäft. Man kann schwanger werden, man kann sich verlieben, verletzen oder einen Käfer holen. Puncto Käfer sind aber Menschen mit HIV und einer Therapie eine sichere Partie. HIV verbreiten sie nicht, und auf alle anderen Mikro-Lebewesen werden sie alle 6 Monate untersucht. Kaum einer ohne HIV kann das von sich behaupten.

Zugegeben, mit dieser Erkenntnis wird die Vorbeugung und Verhinderung von sexuell übertragbaren Erkrankungen nicht einfacher. Wie schon vor 10 Jahren nach dem EKAF-Statement wird sie komplizierter. Dafür wird sie ehrlicher und bleibt bei den Leuten. Das ist eine Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Prävention.

Liebe Mitmenschen ohne HIV, wir bleiben im Gespräch.

 

David Haerry / November 2018