Endlich: Schweizer Spezialisten erwägen, dass HIV-positive Mütter ihr Neugeborenes stillen sollen
Eine wirksame Therapie unterdrückt die Viruslast, und HIV ist nicht übertragbar. In der Schweiz predigen wir dies seit 2008. Gilt das auch für Frauen mit HIV, welche ihr Baby stillen möchten? Diese Frage blieb bis heute ein Kampfplatz. Niemand hatte die Chuzpe, auch hier Entwarnung zu geben. Damit blieben die Interessen junger Mütter auf der Strecke. Bis eben jetzt.
Soeben haben Schweizer HIV-Fachleute im Swiss Medical Weekly einen Artikel publiziert; „Breastfeeding with HIV in a high-income setting: equipoise and beyond – time to question the zero-risk policy“, auf deutsch: „Stillen mit HIV in einem Land mit hohem Einkommen: Verhältnis von Nutzen und Risiko – Zeit, die Null-Risiko-Politik in Frage zu stellen“.
Man ist sich einig, dass eine Entbindung bei nicht nachweisbarer Viruslast sicher ist. Trotzdem ist die Schweiz nach wie vor das einzige Land, welches seit 2016 auch auf eine Postexpositionsprophylaxe für Neugeborene in solchen Fällen verzichtet. Deutschland und Österreich sind die ersten, welche nachziehen – neun Jahre nach der Schweiz.
Die Schweizer Empfehlungen zur Verhinderung einer Mutter-Kind Übertragung wurden zuletzt 2018 überarbeitet. Damals gingen die Schweizer Fachleute davon aus, dass Vorteile und Risiken beim Stillen mit HIV unter optimalen Bedingungen im Gleichgewicht seien. Vorgeschlagen wurde ein gemeinsamer Entscheidungsprozess, damit die künftige Mutter ihre eigene, gut überlegte Entscheidung treffen kann. Diese wurde dann vom Betreuungsteam bedingungslos unterstützt. Die Entscheidung und die damit verbundene Verantwortung lagen grundsätzlich bei der Frau. Die meisten Länder mit hohem Einkommen haben dieses Verfahren inzwischen übernommen.
Die Autoren sind jetzt zum Schluss gekommen, dass die Risiken des Stillens mit HIV zu hoch bewertet werden. Die Vorteile des Stillens, insbesondere die Verringerung der Erkrankungsrate und Sterblichkeit für Mutter und Kind, überwiegen die sehr geringen Risiken selbst in Ländern mit hohem Einkommen deutlich. Die Schweizer Fachleute sind deshalb der Meinung, dass das Stillen mit HIV nicht nur unter optimalen Umständen unterstützt, sondern gefördert und begünstigt werden sollte und dass die Betreuungsteams dies auch klar kommunizieren sollen.
Dies wird den betroffenen Frauen die Entscheidungsfindung erleichtern, Stigmatisierung verringern, die Eltern von der Hauptverantwortung für die Entscheidung entlasten und die HIV-Infektion weiter normalisieren.
Wir begrüssen diesen längst überfälligen Schritt. Wir wissen, dass in der Schweiz die meisten schwangeren Frauen mit HIV es bevorzugten, ihr Neugeborenes zu stillen. So wie bisher kommuniziert wurde, wurde den Frauen und Eltern aber die Verantwortung quasi aufgehalst. Man kann sich vorstellen, wie gross diese Last auf Müttern und Eltern war. Wieviel einfacher ist doch die Nachricht „Ihr sollt stillen, es ist besser für das Kind und die Mutter“!
Die neuen europäischen Therapierichtlinien drücken sich nach wie vor darum, diese Frage zu beantworten. Es ist ein Trauerspiel, und erinnert an die wilden Diskussionen nach dem Swiss Statement 2008.
Wichtig zu wissen: Die eigentlichen Empfehlungen sind noch in Arbeit. Wir freuen uns auf die Publikation im Frühjahr 2026.
David Haerry / November 2025
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