Dr. med. Markus Frei ist Tropennmediziner und Allgemeinpraktiver mit Schwerpunkt HIV in Luzern. Er betreut seit vielen Jahren eine grosse PatientInnengruppe in der Innerschweiz, davon ein Grossteil Menschen mit Migrationshintergrund. Seit 2009 arbeitet Frei in einer Gruppenpraxis von 5 ÄrztInnen, darunter ein Infektiologe. Die Praxis arbeitet eng mit der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie (SHCS) zusammmen. Frei selbst hat langjährige Erfahrung mit HIV-positiven Menschen aus der Region Subsahara-Afrika, er arbeitet regelmässig in Projekten in dieser Region mit und hält sich oft in Afrika auf.

Lieber Herr Frei, mit welchen Personen mit Migrationshintergrund haben Sie zu tun?
Meine letzten PatientInnen sind v.a. Äthiopier und Eritreer, ausserdem etliche WestafrikanerInnen aus Angola und Kongo, die während der Bürgerkriege geflüchtet sind, und Kenianer. Weiter Personen aus Kamerun, Liberia und Algerien. Daneben kommen Personen aus Asien und Südamerika. Von meinen etwa 160 HIV-PatientInnen stammen rund 60 aus Afrika oder Asien. Bei den PatientInnen aus Afrika liegt durchwegs eine heterosexuelle Uebertragung vor.

Wie kommen die PatientInnen zu ihnen?
Die Frauen kamen in den letzten zwei Jahren hauptsächlich weil sie anlässlich einer Schwangerschaft positiv getestet wurden. Viele PatientInnen werden von ihrem Hausarzt überwiesen. Die meisten kommen wegen Symptomen. Einige Männer kommen zu mir zum Test, entweder als seronegative Partner von HIV-Positiven, oder weil sie unspezifische Symptome haben.

Wie funktioniert die Verständigung mit Menschen aus Afrika?
Meistens nicht so gut. Die Westafrikaner sprechen Französisch, die aus Kenia und Tansania Englisch, immer unterschiedlich gut. Dagegen sprechen Personen aus Eritrea oder Äthiopien oft nichts von beidem. Bei der Caritas können wir dazu interkulturelle Übersetzer anfordern und das ist sehr hilfreich. Allerdings ist das Problem damit nicht immer gelöst. Ein Mann wollte nach seiner Informierung über die positive Diagnose vermittels eines Übersetzers nie mehr mit einem Übersetzer sprechen. Dass diese Drittperson davon erfuhr, war für ihn fast schlimmer, als die Diagnose selbst.

Ist das ein generelles Problem mit Menschen aus Afrika?
Viel mehr in der Schweizer Diaspora als in Afrika selbst. Hier ist kaum bekannt, dass sich die Verhältnisse in Afrika in den letzten Jahren stark verändert haben. HIV und Aids sind als gesellschaftliche Problem dort weitherum anerkannt, Therapien sind verfügbar und die Menschen wissen, dass man nicht mehr automatisch an HIV stirbt. Es gibt Selbsthilfegruppen, öffentliche Auftritte von Betroffenen, Betroffene im Arbeitsmarkt, öffentliche HIV Tests von politischen Führern und sogar Partnersuche für Positive. Aber natürlich sind demgegenüber auch die bekannten Versorgungs- und Finanzierungsprobleme in Afrika sehr real, und die Therapiesituation der meisten Menschen mit HIV in Afrika ist nicht mir der in der Schweiz vergleichbar.

Warum kennen die MigrantInnen die Situation in den Heimatländern nicht? 
Das ist eine Entwicklung der letzten Jahre, die von vielen Menschen in der Diaspora nicht wahrgenommen wurde. Auch fehlt das Bewusstsein, dass so viele Mitglieder der Community HIV-positiv sind.

Andererseits hat man auf der Angebotsseite bis jetzt offenbar noch nicht das Ei des Kolumbus entdeckt, das Problem ist grundsätzlich schwierig zu lösen. Die besten Erfahrungen habe ich in Luzern mit einer HIV-positiven Beraterin gemacht, die seit Jahren in diesem Bereich tätig ist. Ich habe ihre Telefonnummer und kann sie immer anfragen, wenn es ein spezielles Problem mit einem Patienten gibt. Auf diesem Weg bekommen wir immer wieder Unterstützung, sie kann das einfach gut. Es hängt viel von bestimmten Persönlichkeiten ab und ideal wäre wohl, wenn diese aus der afrikanischen Community kämen.

Welche Themen sind im Praxisalltag wichtig?
Ich kann heute davon ausgehen, dass MigrantInnen mit einem bestimmten Hintergrundwissen zu HIV/Aids kommen. Es ist nur noch selten nötig, dass man die grundlegendsten Zusammenhänge erklären muss, weil etwa Betroffene nicht an den Zusammenhang zwischen HIV und Aids glauben würden. Viele Menschen fürchten nach einer positiven Diagnose allerdings immer noch, dass sie bald sterben.

Ein wichtiges Probem in dieser Gruppe ist der Einbezug der Partner. Ich habe häufig den Eindruck, dass seronegative PartnerInnen nicht informiert werden, und es ist auch selten, dass der oder die PartnerIn in die Beratung einbezogen werden können. Aber letztlich hängt das mit der allgemeinen Problematik zusammen, dass man nicht darüber reden will.

Ist das auch ein Problem für die Sexualanamnese?
Ja. Es gibt nicht nur die sprachlichen Hürden, sondern es ist allgemein schwierig, mit Personen bestimmter Migrationsgruppen über Sexualität zu sprechen. Das Problem gibt es ja schon mit Schweizer PatientInnen, in Migrationsgruppe ist es noch zugespitzt. Das hat auch damit zu tun, dass in den Heimatländern normalerweise überhaupt nicht mit dem Arzt über Sexualität gesprochen wird. Und wenn, dann nur verklausuliert, so dass man erst mal verstehen muss, wovon der Patient redet.

Es ist viel die Rede davon, dass Menschen aus Afrika mehr und gleichzeitige Partnerschaften haben. Kommen Sie mit ihren PatientInnen darauf zu sprechen?
Selten direkt, aus den schon genannten Gründen. Aber wenn ich den Eindruck bekomme, dass das eine Rolle spielt, dann versuche ich, besonderes Gewicht auf die Prävention und die funktionierende Therapie zu legen. Mir scheint, dass man in diesem Bereich schon früh Geschirr zerschlagen hat, weil viele Afrikaner glauben, dass man ihnen die Schuld an der Aids-Epidemie in die Schuhe schiebt und ihnen erst noch unmoralisches Verhalten unterstellt. Das macht die Diskussion über Risikoverhalten und Schutz schwierig.

Kommen die Patientinnen regelmässig zur Kontrolle?
Insgesamt nicht weniger als andere PatientInnen, wenn man bedenkt, dass sich für MigrantInnen diesbezüglich oft spezielle Herausforderungen stellen. Personen in Asylverfahren sind in der Regel am besten versorgt sind, weil andere Akteure einen grossen Teil der Organisation und der Finanzierung übernehmen. Wenn jemand dann eine Aufenthaltsbewilligung hat und plötzlich für alles selber zuständig ist, kommt es vor, dass Probleme mit der Krankenkasse, oder mit der Therapie entstehen. Das hat meistens mit der wirtschaftlichen oder sozialen Situation dieser Personen zu tun. In diesen Belangen müssen wir unterstützend wirken und die Situation der Betroffenen immer wieder erfragen, sie entsprechend informieren und an die richtigen Stellen verweisen.

Werden Sie dabei unterstützt?
Ja, mit den Übersetzungen und für viele Belange im Asylverfahren durch die Caritas, dann auch durch die Aidshilfe, durch die Sozialämter. Aber es ist natürlich auch für uns ein Zusatzaufwand.

Für Personen in Asylverfahren ist die mögliche Rückführung ein wichtiges Thema. Sprechen Sie mit Ihren PatientInnen über diese Möglichkeit und die Optionen für die Therapie?
Wenn es nötig ist. Normalerweise erfahre ich den Stand der Dinge von den PatientInnen. Ausserdem muss ich im Abschiebefall ja auch medizinische Informationen liefern. Leider kommt es aber vor, dass ein Patient plötzlich nicht mehr auftaucht. Dann muss ich annehmen, dass die betroffene Person heimgeschickt wurde. Was mich diesbezüglich stört, ist der Sachverhalt, dass die Entscheidungen des Bundesamtes für Migration im Einzelfall für mich nicht transparent sind. Ich kenne die Kriterien nicht, nach denen die medizinischen Optionen eines Patienten in seinem Heimatland beurteilt werden. Das ist für mich als behandelnder Arzt unbefriedigend.

Was muss gegeben sein, damit mit einer zureichenden therapeutischen Versorgung von HIV-PatientInnen in ihren Heimatländern gerechnet werden kann?  
Abgesehen von den politischen Situationen in den einzelnen Ländern: Wir wissen ungefähr, welche Medikamente und welche diagnostischen Mittel in welchen Ländern und Regionen verfügbar sind. Die therapeutischen Optionen sind in Afrika, abgesehen von wenigen Ausnahmen, nicht mit unseren Verhältnissen vergleichbar, obwohl sich die Bedingungen in jüngster Zeit stark verbessert haben. Generell gibt es erstens wenig Auswahl bei den Wirkstoffen und zweitens fehlen oft die Erfahrungen und die medizinischen Möglichkeiten für Second-Line-Therapien (2). Für die allermeisten HIV-PatientInnen gibt es also viel weniger Therapieoptionen. Das müssten wir schon hier berücksichtigen können. Zum Beispiel, indem wir PatientInnen auf bestimmte, dort erhältliche Medikamente einstellen, oder indem wir eine Second-Line-Therapie schon hier einleiten, und zwar mit dort erhältlichen Wirkstoffen.

Lieber Herr Frei, ich danke Ihnen für dieses interessante Gespräch.

 

Rainer Kamber, Aids-Hilfe Schweiz
(1) Second-Line-Therapie: Therapieumstellung, die in der Regel nach einem ersten Therapieversagen vorgenommen wird. Die wichtigsten Gründe sind ein Ansteigen der Virenlast aufgrund einer Resistenzenbildung oder die Unverträglichkeit eines HIV-Medikaments.
Swiss Aids News 2, Juni 2010, www.aids.ch