Prof. Dr. Bernhard Hirschel ist Infektiologe und Leiter des HIV/Aids-Zentrums am Genfer Universitätsspital, das er mit aufgebaut hat. Er betreut dort Menschen mit HIV in Genf seit Beginn der Epidemie und er ist einer der Gründer der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie (SHCS). Hirschel trat im Winter 2007 als erster Schweizer HIV-Spezialist an die Öffentlichkeit mit der Information, dass Menschen mit HIV unter Therapie und voll unterdrückter Virenlast nicht mehr sexuell infektiös seien. Dies wurde von ihm und den Koautoren der Eidgenössichen Kommission für Aidsfragen (EKAF) dann im Januar 2008 in der Schweizerischen Ärztezeitung auch publiziert. Hirschel hat Hunderte von Forschungsbeiträgen in den international wichtigsten Fachzeitschriften publiziert, er ist Mitglied diverser Forschungsorganisationen und Editorial Boards. Er ist verheiratet, Vater von 3 Kindern und lebt in Genf.
Lieber Herr Hirschel, Sie haben anfang der Achziger Jahre die ersten in der Schweiz aufgetretenen Fälle von Aids beschrieben.
Unser erster Fall war eher ungewöhnlich. Es handelte sich um eine 47-jährige Hausfrau mit opportunistischen Infektionen. Zu diesem Zeitpunkt konnten wir nur vermuten, dass es sich um dieselbe Krankheit handelte, die vorher bereits in den USA beschrieben worden war. Es fehlte ja ein Test. Ich gab unsere Informationen dann an das CDC (1) weiter und bekam die Auskunft, dass dies erst der fünfte vermutete AIDS-Fall bei einer Frau sei. Bis heute wissen wir nicht, wie sich diese Frau infiziert hat, denn ihr damaliger Ehemann lebt meines Wissens noch und ist HIV-negativ. Das ist jetzt fast dreissig Jahre her.
Wie kamen Sie dazu, sich mit diesen Fällen zu beschäftigen?
Ich war Infektiologe hier am Genfer Unispital und forschte am Bakterium Meningococcus, bevor die ersten Aidsfälle auftraten. Als Infektiologe hatte ich direkt mit diesen Fällen zu tun. Sie haben mich stark interessiert und ich habe mich seither damit beschäftigt.
Dann ging alles sehr schnell?
Aus heutiger Sicht schon, damals waren es lange und dramatische Jahre. Im Herbst 1981 wurden die ersten Fälle beschrieben und es dauerte zwei Jahre, bis wir Klarheit bekamen über den Krankheitserreger. Luc Montagnier hatte eine erste Beschreibung von „LAV“ (2) geliefert und war damit auf der richtigen Spur. Dann entstand eine Kontroverse zwischen ihm und dem amerikanischen Forscher Robert Gallo, der ein ähnliches Virus beschrieben hatte. Einige Zeit war unklar, ob man es überhaupt mit demselben Erreger zu tun hat.
Erst 1984 stand ein Antikörpertest zur Verfügung, der zu Beginn noch nicht zuverlässig war und viele falsch positive Resultate ergab.
War an HIV vor allem die hohe Mortalität ungewöhnlich?
Die Sterberate unter HIV-Infizierten kannten wir lange Zeit nicht, denn wir wussten ja nicht, wie verbreitet das Virus war und wieviele Menschen daran starben. Das Besondere an HIV war aber vor allem die ungewöhnlich lange Inkubationszeit (3). So realisierten wir erst nach und nach, dass Aids bei gegen 80% der mit HIV-Infizierten innert zwanzig Jahren ausbricht und zum Tod führt. Das wirkliche Ausmass der Epidemie wurde erst mit dem Antikörpertest deutlich.
Welche Gruppen waren zu Beginn in Genf betroffen?
Besonders markant breitete sich HIV bei den Heroinabhängigen aus. Und in dieser Gruppe hat das Gesundheitssystem zu Beginn auch am eklatantesten versagt. Es war bald klar, dass der Spritzentausch das Problem war, aber wir verbrachten in Genf lange Zeit mit dem Methadonstreit. Mit etwas entschlosserenem Handeln hätten wir in dieser Gruppe etliche Leben retten können. Hier war ja, nachdem man sich endlich zur Abgabe von Spritzen, Methadon und Heroin entschlossen hatte, auch der der grösste Präventionserfolg zu verbuchen. In keiner anderen Gruppe schlug eine einzelne Massnahme so erfolgreich durch. Heute ist HIV in dieser Gruppe nur noch ein marginales Problem.
Dann kam die Therapie. Wie war diese Revolution eigentlich möglich?
Das ist einer der erstaunlichsten Erfolge in der Medizingeschichte. Ich denke, erstens bestand allenthalben Einigkeit über die Dringlichkeit des Problems. Zweitens verfügte die Forschung bereits über Werkzeuge, mit denen das Virus angegriffen werden konnte. Die reverse Transkriptase (4) war 1970 von Howard Teamin und David Baltimore entdeckt worden und bot den ersten direkten Angriffspunkt. Drittens muss man sich die beispiellose Mobilisierung von Betroffenengruppen vergegenwärtigen, allen voran die schwulen Männer. Sie trug in hohem Mass dazu bei, dass sich das Bewusstsein und die Angst bezüglich HIV/Aids in der Allgemeinbevölkerung ausbreitete. Und damit wurden erhebliche wirtschaftliche Ressourcen mobilisiert.
Auch in der Pharmaindustrie?
Ganz besonders dort. Denn HIV hatte sich ja offenkundig weltweit ausgebreitet und so war mit therapeutischen Wirkstoffen auch Geld zu verdienen. Die entsprechende pharmafinanzierte Forschung hat sich nicht zuletzt aus Konkurrenzgründen in kurzer Zeit schnell und stark entwickelt. Heute befinden wir uns nun eher wieder in einem Prozess der Strukturbereinigung. Mittelfristig werden wohl nicht alle Wirkstoffe rentabel bleiben.
Natürlich spielte es für die hohe Dynamik dieses Prozesses eine wichtige Rolle, dass man mit den antiretroviralen Wirkstoffen so erfolgreich war und so vielen Menschen helfen konnte.
Beim ersten HIV-Medikament, AZT, war man sich des Erfolgs aber noch nicht sicher?
Azidothymidin war ein Spezialfall, denn der Wirkstoff existierte ja schon seit den 60er Jahren als Krebstherapie, war dort aber ein Misserfolg. Man war in der Krebsforschung lange Zeit der Auffassung, dass die meisten Krebsformen durch Retroviren verursacht würden und hatte AZT in diesem Kontext entwickelt. Gegen HIV wirkte dieser Hemmer der reversen Transkriptase deutlich besser. Aber leider waren die Nebenwirkungen von AZT erheblich und das Virus wurde in der Regel schnell resistent gegen den Wirkstoff. Er bot also nur einen kurzen therapeutischen Aufschub.
Wie brachte man das Resistenzproblem unter Kontrolle?
Erst nachdem verschiedene Wirkstoffe zur Verfügung standen gelang mit den Kombinationstherapien der therapeutische Durchbruch in den 90er Jahren. HIV kann seither bei infizierten Menschen langfristig unter Kontrolle gebracht werden. Durch die praktisch vollständige und dauernde Unterdrückung der viralen Reproduktion im infizierten Organismus wurde auch die nachhaltige Erholung des Immunsystems möglich. Und nur so gelang es, dass Menschen mit HIV dank der antiretroviralen Therapie heute eine nahezu normales Leben führen können.
Und bei voll unterdrückter Virenlast sind Menschen mit HIV praktisch nicht mehr infektiös?
Genau, diesen Effekt kennen wir schon relativ lange. Es dauerte aber seine Zeit, bis wir ihn für die Prävention mobilisieren konnten. Man hatte lange Zeit die nicht sehr rationale Befürchtung, dass man mit dieser Information die klassische kondombasierte Prävention schädigen würde.
Hat sich nicht für die HIV-Prävention eine Schere geöffnet? Einerseits möchte man heute mit diesen guten Nachrichten Menschen mit HIV für den Test und die Therapie mobilisieren. Andererseits braucht doch auch die Prävention eine Motivation?
Die Aidspräventions-„Industrie“ hat vermutlich bisher zu viel Energie auf das Warnen und zu wenig auf die Erfolgsgeschichten verwendet. Da ist vielleicht, wie bei jeder Interessenorganisation, auch ein Stück Eigennutz mit im Spiel. Man möchte weiterhin auf die alten Präventionsbotschaften setzen können und mit Mitleid Fundraising betreiben. Und dazu muss man natürlich HIV nachhaltig dramatisieren. Damit werden aber die Ängste zementiert, sowohl bei Betroffenen als auch in der Öffentlichkeit und man verzögert damit den Prozess einer Normalisierung.
Wie kann man das ändern?
Ich finde es zentral, dass man aufhört, Prävention und Therapie als Gegensätze zu behandeln, zum Beispiel indem man mit dem Hinweis auf die „gefährliche“ Therapie für die Prävention wirbt. Die antiretrovirale Therapie liegt sowohl im PatientInneninteresse als auch im Interesse der Prävention. Wir müssen die beiden Dinge zusammen denken. Neue Ideen zur Prävention werden also dringend gebraucht.
Haben Sie eigentlich 2007, bzw. 2008 die teilweise recht fulminanten internationalen Reaktionen auf das EKAF-Statement erwartet?
Die Heftigkeit hat mich in einigen Fällen schon überrascht. Andererseits waren die EKAF-Mitglieder diesbezüglich auch nicht naiv. Wir wussten, dass wir diese Botschaft pointiert formulieren müssen, damit sie überhaupt ankommt. Insofern haben wir auch mit Reaktionen gerechnet.
Ich möchte aber auch festhalten, dass die Kernaussagen des EKAF-Statement – nämlich der Präventionseffekt der HIV-Therapie – heute kaum noch Widerspruch erzeugt. Die heute laufenden Diskussionen drehen sich im wesentlichen um die Frage, wie weitreichend dieser Effekt ist und wie er für die HIV-Prävention in Dienst genommen werden kann.
Damit der präventive Effekt einer HIV-Therapie wirksam werden kann, muss ein Mensch mit HIV erst wissen, dass er oder sie positiv ist – und dann noch eine Therapie beginnen wollen. Wir wissen aber, dass noch immer viele Menschen Angst sowohl vor dem Test, als auch vor der HIV-Therapie haben.
Jeder von uns hat Angst vor einer ernsten medizinischen Diagnose und ihren Folgen. Es ist eine natürliche Reaktion, dass man schlechte Nachrichten nicht hören will. Und leider ist es so, dass Menschen mit HIV, teilweise zu Recht, grosse Vorbehalte haben, mit ihrer Infektion und unter Therapie an die Öffentlichkeit zu treten, um so damit beizutragen, diese Ängste abzubauen. Das ist verständlich, denn die Infektion und die Therapie belasten das Leben ohnehin und Betroffene wünschen sich in der Regel nichts mehr, als ihr Leben in Ruhe weiterleben zu können, sei es allein, im Beruf, in einer Partnerschaft oder in einer Familie.
Andererseits hat man seitens der Präventionsagenturen gerade diese Ängste auch immer wieder geschürt um nur ja nicht HIV zu verharmlosen und damit etwa Safer Sex zu diskreditieren. Davon sollte man jetzt Abschied nehmen.
Können wir denn überhaupt damit rechnen, dass wir weltweit genügend Menschen mit HIV-Medikamenten versorgen können, damit ein entsprechender Effekt auf die Epidemien wirksam würde?
Das weiss ich nicht. Man hat es auch noch nicht ausprobiert und man müsste einen gezielten, regional begrenzten Versuch dazu unternehmen. Was wir heute vermuten, ist, dass sich der breite Einsatz der Therapie in den „alten“ Epidemien, also zum Beispiel in westlichen Grossstadtzentren wie San Francisco oder Vancouver, schon jetzt auf die Zahl der Neuinfektionen auswirkt – dass also weniger Menschen infiziert werden, wo die Therapie weiter verbreitet ist.
Abgesehen von der Frage nach dem Effekt der Therapie auf die HIV-Epidemien stellen sich aber auch noch andere Fragen. Auch wenn wir voraussetzen, dass die HIV-Therapie die Epidemien zu stoppen vermöchte, wissen wir im Augenblick nicht, wie ein derartig aufwändiges und teures globales Projekt überhaupt durchgeführt und bezahlt werden könnte. HIV ist nicht das einzige drängende Problem in den stark betroffenen Ländern. Es steht unter anderem in Konkurrenz mit weiteren wichtigen medizinischen Problemen, zum Beispiel Malaria. Ausserdem kämpfen diese Länder nicht selten mit grundlegenden Herausforderungen in Bezug auf Ernährung und Wasserversorgung – und erst recht in Bezug auf ein funktionierendes Gesundheitssystem. Wir können also nicht einfach von hier aus entscheiden, dass jetzt zuerst das Problem HIV gelöst wird und glauben, dass es damit getan ist.
Das Thema „Test and Treat“ (4) ist heute sehr aktuell. Also der Ansatz, möglichst viele Menschen zu testen um sie schnell zur Therapie zu bringen. Vor kurzem hat die Fachkommission für Klinik und Therapie (FKT) ihre Empfehlungen zum Testen im Rahmen der normalen Gesundheitsversorgung revidiert. Die FKT schlägt vor, dass der Test ähnlich wie andere diagnostische Tests routinemässig gemacht werden sollte und dass er nicht mehr notwendig mit einer Beratung verknüpft sein muss. Ausserdem soll der Test unter bestimmten Bedingungen auch ohne Informierung von PatientInnen gemacht werden können.
Auch ich bin der Meinung, dass der HIV-Test stärker in die Routineuntersuchungen integriert werden sollte. Erstens ist der Test heute äusserst zuverlässig und zweitens relativ billig. Wenn es gelingt, mehr Menschen rechtzeitig zur Therapie zu bringen, dann wird sich daraus unter dem Strich eine Kostenersparnis ergeben, weil diese Menschen ein gesünderes und produktiveres Leben haben werden. Damit kann insgesamt etwas erreicht werden, sowohl für Menschen mit HIV, als auch für die öffentliche Gesundheit. Natürlich sind Forderungen nach einem Informed Consent (5) einerseits und einem wirkungsvollen HIV-Screening andererseits gegeneinander abzuwägen.
Eine der noch immer bestehenden Herausforderungen gegenüber einer allgemeinen „Normalisierung“ von HIV ist das Problem des HIV-Stigma und die darauf gründende soziale, rechtliche und wirtschaftliche Diskriminierung von Menschen mit HIV. Bis jetzt war die Testpolitik davon ausgegangen, dass jede Person selber entscheiden können muss, ob sie einen HIV-Test machen will oder nicht. Sollten wir wirklich das Prinzip des auf Freiwilligkeit basierenden Beratens und Testens (6) so schnell in der medizinischen Routine aufgehen lassen?
Ich finde, dass man das Problem nicht auf diese Weise zuspitzen sollte. Die EKAF verband mit ihrer Stellungnahme 2008 ausdrücklich die Hoffnung, dass mit der systematischen Informierung über die Möglichkeiten und den Erfolg der Therapie die Ängste gegenüber HIV abgebaut werden – und damit die Quellen von Stigma und Diskriminierung. Im Bereich der Rechtsprechung sind wir mit dieser Strategie erfolgreich. Es kommt immer öfter zu Verfahrenseinstellungen, wenn ein Indexpatient nachweisen kann, dass von ihm kein Infektionsrisiko ausgeht. Ich denke auch, dass wir bezüglich Stigma und Diskriminierung in den letzten zwanzig Jahren weitergekommen sind und dass dieser Prozess weitergehen wird. Allerdings gebe ich Ihnen in einem Punkt recht: gerade jene PatientInnen, welche attraktive Rollenmodelle abgeben könnten für diese Entwicklung, wollen sich heute eher weniger als früher dafür einsetzen. Ich finde, dass es aber vor allem eine Aufgabe der Präventionsorgansationen ist, sich konsequent für diesen Prozess der Normalisierung einzusetzen.
Lieber Herr Hirschel, ich danke Ihnen für das interessante Gespräch.
Rainer Kamber, Aids-Hilfe Schweiz
(1) Center for Disease Control, die us-amerikanische Behörde für die Überwachung infektiöser Krankheiten.
(2) LAV: „Lymphadenopathy Associated Virus“, also das Virus, das eine Erkrankung der Lymphknoten (die charakteristische Schwellung) verursacht. Luc Montagnier erhielt für die Entdeckung von HIV 2008 den Nobelpreis in Medizin.
(3) Inkubationszeit: der Zeitraum von der Übertragung eines Krankheitserregers bis zum Ausbruch der Krankheit.
(4) Reverse Transkriptase (RT): ein biologischer Baustein der beim Zusammenbau des HIV-Ergutes eine zentrale Funktion hat. HIV und andere Viren bauen mit Hilfe von RT ihr Erbmaterial so um, dass es in einen Wirtsorganismus integriert werden kann. Teamin und Baltimore erhielten für die Entdeckung der RT 1976 den Nobelpreis in Medizin.
(5) Informierte Entscheidung: der Patient entscheidet, nach vollständiger Information seitens des Arztes, selbst, ob er einen HIV-Test machen will oder nicht.
(6) VCT: Voluntary Counselling and Testing ist eines der Grundprinzipien der HIV-Testpolitik.
Swiss Aids News 2, Juni 2010, www.aids.ch