Während der Retroviren-Konferenz 2008 in Boston war die Bombe geplatzt: Die damalige Kommission für Aids-Fragen veröffentlichte in der «Schweizerischen Ärztezeitung» ihre Stellungnahme zur Nichtinfektiosität von erfolgreich therapierten Menschen mit HIV. Zehn Jahre später, an der diesjährigen Welt-Aids-Konferenz in Amsterdam, folgte der endgültige, wissenschaftlich abgesicherte Nachweis der damaligen Thesen.

Ich wusste damals von den Diskussionen in der Eidgenössischen Kommission für Aids-Fragen (EKAF) und der anstehenden Publikation. Mir war schon lange bewusst, dass die Therapie einen Einfluss auf die Infektiosität haben musste: Es gab zu viele «Unfälle» beim Sex – von mir und anderen –, bei denen offenbar keine Übertragung stattfand. Dass man darüber reden sollte, wurde mir 2006 an der HIV Glasgow klar. Forscher aus Madrid präsentierten dort Daten von 76 serodiskordanten Paaren mit Kinderwunsch. Die einzige angewandte Schutzmassnahme war die Therapie des Partners mit HIV, und die Kinder waren alle gesund.

In der Schweiz bereitete man die Publikation der EKAF-Mitteilung minutiös vor. Die lokalen Aids-Hilfen wurden mit Informationsmaterial ausgerüstet und die Mitarbeitenden geschult. Nicht überall in der Schweiz war man gleichermassen begeistert. Im Vorfeld wurde von einigen Forschern Kritik geäussert, und auch im Bundesamt für Gesundheit galt es, Skepsis zu überwinden. Ich war damals gerade an einem Forum der International AIDS Society, als die Nachricht aus der Schweiz hereinplatzte. Leider wurde keine offizielle englische Fassung der Stellungnahme veröffentlicht, und die erste Meldung einer Presseagentur war zum Teil falsch. «Ihr Schweizer seid ja völlig verrückt geworden»: So äusserte sich ein sehr bekannter HIV-Forscher spontan. Die Reaktionen waren derart emotional, dass ich auf dem Konferenzbadge die Zeile «Switzerland» wegknickte.

Schwächen des Swiss Statements von 2008

Unter den HIV-Aktivisten waren die Meinungen geteilt. Das Spektrum reichte von grosser Begeisterung bis zu völliger Verunsicherung und Ablehnung. «Jetzt bin ich endlich nicht mehr die tödliche Bombe im Bett», meinte ein griechischer Kollege. Ein anderer aus Kanada schrieb mir: «Ich verstehe die Botschaft an Paare mit Kinderwunsch. Ich befürchte einfach, dass nun schwule Männer mit wechselnden Partnern alle Vorsicht über Bord werfen und sich nicht länger schützen.» Und ein Franzose fand sogar: «Ihr Schweizer mit eurer protestantischen Ethik könnt eine solche Strategie vielleicht umsetzen. Bei uns in Frankreich kann man das vergessen. Euer Vorgehen ist unüberlegt und gefährlich.» All diese Reaktionen zeigten, dass die nuancierte Botschaft der EKAF nicht als solche wahrgenommen wurde. Man wollte in erster Linie Paaren mit Kinderwunsch die Angst vor einer Ansteckung nehmen und gleichzeitig Menschen mit HIV besser vor unberechtigten Anklagen schützen. Ungeschützter Geschlechtsverkehr galt damals juristisch in der Schweiz und anderswo als gefährliche Körperverletzung, selbst wenn es zu keiner Ansteckung mit HIV kam.

Die EKAF-Mitteilung, die als «Swiss Statement» bekannt wurde, hatte durchaus Schwächen: Die wenigen handfesten Daten stammten alle aus einem heterosexuellen Kontext. Zudem waren die Aussagen nur in Ländern relevant, wo die Viruslast zuverlässig bestimmt werden konnte. Nicht zuletzt ist es unmöglich nachzuweisen, dass ein erwartetes Ereignis, die HIV-Übertragung, nicht stattfindet. Das war den Autoren wohl bewusst. Überrascht waren sie von der Heftigkeit der Reaktionen im Ausland. Die heftigsten Widerstände aber kamen von Forschern aus der Fortpflanzungsmedizin, die im Labor Spermien wuschen. Die EKAF-Stellungnahme enthielt keine Forderung nach zusätzlicher, gezielter Forschung – auch das war ein Versäumnis.

«U = U: Undetectable = Untransmittable»

Für sehr viele Betroffene war das Swiss Statement unglaublich befreiend. Für die internationale Forschungsgemeinschaft gab es den Anstoss zu mehreren grossen Studien, die das Statement im Nachhinein bestätigten. Die letzte, definitive Bestätigung war die Präsentation der Daten der PARTNER-2-Studie im Juli 2018 an der Welt-Aids-Konferenz in Amsterdam. Ebenso wichtig wie die Forschung war aber die durch das Statement ausgelöste Debatte. Das Überwinden von Dogmen braucht viel Zeit, und die Diskussionen kann man nicht abkürzen. Sie sind vielmehr eine Voraussetzung für die Konsensfindung.

Die Kampagne «U = U: Undetectable = Untransmittable» kam erst heuer so richtig in Schwung. Das ist nachvollziehbar, weil erst die PARTNER-2-Studie die letzten Unsicherheiten beseitigte – dass nämlich auch schwule Männer mit HIV das Virus nicht an ihre festen Partner weitergeben. Diese Kampagne muss weitergehen. Selbst in der Schweizer Bevölkerung ist die Botschaft nämlich noch immer nicht angekommen. Das zeigte Ende Mai eine spontane Umfrage des Schweizer Fernsehens in der Berner Altstadt.[1]

Dieser Kommentar ist erstmals in den Swiss Aids News SAN 4-2018 erschienen.

David Haerry / Oktober 2018

 


[1] SF-Sendung «Puls» vom 5. Juni 2018