Die einen möchten sofort, die andern möglichst spät, einige wenige möglichst gar nicht – Hürden zum Therapiestart gibt es etliche und viele Patienten fühlen sich sehr allein in dieser entscheidenden Situation. Überlegungen und Anregungen eines HIV-positiven Menschen.
„Mein Arzt* soll das entscheiden“ – „Ich will die Therapie möglichst schnell, dann bin ich beruhigt“ – „Ich habe Angst vor Nebenwirkungen“ – „Ich habe Angst, mich zu outen wenn ich Pillen schlucken muss“ – „So viele Tabletten, schaffe ich das?“ – „Mein Immunsystem schafft das von alleine, wenn ich gut zu ihm bin und gesund lebe“. Alle haben von der Kombinationstherapie gehört, sich irgendeine Strategie zurechtgelegt.
Wann starten?
Die ganz einfache Antwort lautet: sobald Du bereit bist. Dein Arzt wird sich in der Regel auf Therapierichtlinien stützen, und das Gespräch mit Dir suchen, sobald die Behandlung angezeigt ist. Die europäischen Richtlinien empfehlen aktuell einen Therapiebeginn bei ca. 350 CD4 pro Mikroliter. Die Tendenz geht aber im Moment eher in Richtung noch früher starten. Dafür sprechen Daten aus Überwachungsstudien (Kohortendaten).Die Faustregel: besser etwas zu früh als zu spät.
Wie starten?
Eine Übersicht der in der Schweiz zugelassenen Substanzen findet sich auf www.hiv.ch. Es sind insgesamt 23 Medikamente aus sechs verschiedenen Substanzklassen auf dem Markt (die Substanzklasse definiert den genauen Wirkungsmechanismus eines Medikaments). Dein Arzt wird vor Therapiebeginn einen Resistenztest durchführen, um zu prüfen, welche Medikamente optimal wirken. Dieser Test wird in der Regel bereits bei der Diagnose durchgeführt. Ebenfalls bereits vorliegen sollte der HLA B*5701 Genotyp – dieser ist verknüpft mit einer gefährlichen Hyperempfindlichkeitsreaktion beim Einsatz von Abacavir (ein antiretrovirales Medikament, häufig als Ersttherapie verwendet), sowie der CCR5-Tropismustest. Der Tropismustest wird wiederholt, falls diese Substanzklasse eingesetzt werden soll, weil sich der Virus-Rezeptor an der Zelloberfläche verändern kann.
Die Ersttherapie
In der Regel basiert die Ersttherapie entweder auf einem Nicht-Nukleosidanaloga, einem Protease- oder Integrasehemmer. Diese Substanz wird mit einem Kombinationspräparat aus der Klasse der Nukleosidanaloga ergänzt (in der Regel Kivexa oder Truvada). Wichtig: Alle Medikamente wirken gut. Unterschiedlich sind die Dosierungen, Einnahmeregeln und die Nebenwirkungen. Man muss also vor Therapiebeginn herausfinden, was am besten zu Dir passt, und wie Du die vorgeschlagene Therapie am besten in Deinen Alltag einbauen kannst.
Zum Beispiel: Pillen einmal oder zweimal täglich einnehmen? Neuen Patienten mag es helfen, wenn man nur einmal im Tag an Pillen denken muss; den erfahrenen spielt es hingegen kaum eine Rolle, denn auf Dauer ist optimale Verträglichkeit wichtiger als das Einnahmeschema.
Die „Therapietreue“
Treue ist immer eine Herausforderung, auch wenn es „nur“ um Tabletten geht. Die langfristige Therapietreue musst Du vor dem Start eingehend mit Deinem Arzt besprechen.Denn dein aktives Mitmachen ist der wichtigste Faktor für den langfristigen Therapieerfolg und damit für Deine Gesundheit. Du selbst bist die wichtigste Stütze in diesem System, in Partnerschaft mit Deinem Arzt. Es gibt elektronische Hilfen, die Dich dabei unterstützen können, wie Handyalarm oder andere.
Was beeinflusst die Therapietreue?
Ein wichtiges Hindernis sind Depressionen. Wer oft niedergeschlagen ist, nicht mehr an die Zukunft glaubt, der vergisst die Tabletten gern, und das führt zu Resistenzen. Eine Depression sollte also vor dem Therapiestart behandelt werden. Wenn sie unter Therapie auftritt (das ist nicht selten), solltest Du erst Deinen Arzt informieren, und wenn nötig einen Psychotherapeuten aufsuchen.
Ein weiterer, wichtiger Faktor sind problematischer Alkohol- und Drogenkonsum. Beim Alkohol kann man mit etwas Ehrlichkeit selber feststellen, ob man ein Problem hat. Wer nach dem Aufstehen als erstes einen Drink braucht, oder schon mal von Freunden Bemerkungen anhören musste, hat Hinweise, die mit dem Arzt besprochen werden sollten.
Bei Drogen ist es schwieriger. Gelegenheitskonsum bei einer Party, hie und da am Wochenende ist unproblematisch. Wenn aber das hie und da zur Regel wird, oder Drogen wie Crystal Meth mit im Spiel sind, solltest du mit Deinem Arzt reden. Du musst Dir auch im Klaren sein, dass häufiger Drogenkonsum anfällig für Depressionen macht – viele Substanzen beeinflussen den Serotoninstoffwechsel negativ (das serotonale System ist bei jeder bekannten Depressionsform gestört, viele Anti-Depressiva wirken auf dieses System).
Wenn Du häufig Konzentrationsschwierigkeiten hast, oder die Libido nicht tut wie sie soll (es dir an Lust zum Sex mangelt), dann solltest Du mit Deinem Arzt darüber reden. Vielleicht hast Du Testosteronmangel oder aber eine Depression.
Ein weiterer, oft vergessener Faktor: Du solltest mit Deiner Therapie nicht alleine sein. Du brauchst Freunde/Freundinnen, vertraute Menschen, mit denen Du über Deine Therapie, Dein Leben mit HIV reden kannst. Wenn Du irgendwo plötzlich unter Druck kommst (z. B. wenn eine Beziehung in Brüche geht, bei einem Stellenwechsel), dann musst Du wissen wo Du anklopfen kannst und offene Ohren findest.
Wie schlimm sind die Nebenwirkungen?
Jedes wirksame Medikament hat Nebenwirkungen. Die antiretrovirale Therapie ebenso. Keine Therapie nehmen ist nebenwirkungsfrei, führt aber ins Spital oder noch weiter. Durchfall kann sofort eintreten, andere treten später auf oder Dein Arzt sieht sie bei der regelmässigen Überwachung. Frag Deinen Arzt nach den wichtigsten Nebenwirkungen in Bezug auf Deine Therapie. Es lohnt sich die Packungsbeilage der Medikamente zu lesen. Wichtig: Was auf der Packungsbeilage steht, muss nicht eintreffen.
Wenn Dich etwas beunruhigt, melde Dich bei Deinem Arzt oder Apotheker. Es gibt bei der heutigen Auswahl an Medikamenten keinen Grund, eine Therapie einzunehmen, die den Alltag beeinträchtigt. Manche Nebenwirkungen verschwinden nach zwei, drei Wochen; unter Umständen muss man aber die Therapie wechseln. Du und Dein Arzt sind das Team, auf das es hier ankommt.
Du solltest bei einem Therapiestart nicht gerade in die Ferien fahren – damit Du Deinen Arzt erreichen kannst, wenn etwas nicht gut geht. Angst brauchst Du keine zu haben, Du bist auch beim Behandlungsbeginn arbeitsfähig und musst Dich nicht krankschreiben lassen.
Im Vergleich zu noch vor 10 Jahren sind die Therapien einfacher (weniger Pillen weniger häufig) und verträglicher geworden. Es kann Dir auch helfen, mit erfahrenen Patienten über dieses Thema zu reden. Die Aids-Hilfe kann Dir Ansprechpartner vermitteln.
Was muss ich mir noch überlegen?
Gemäss Therapierichtlinien gibt es verschiedene weitere Faktoren, die einen Behandlungsbeginn beeinflussen. Wenn Du eine Hepatitis C-Koinfektion hast, solltest Du so früh als möglich starten. Eine schwangere Patientin sollte die Therapie nehmen, damit das Kind nicht angesteckt wird. Ein Ehepaar mit Kinderwunsch kann unter Therapie das Wunschbaby auf natürlichem Weg zeugen. Eine solche Situation solltest Du mit Deinem Arzt in Ruhe besprechen.
Wichtig ist auch das Thema der Ansteckungsgefahr: Unter erfolgreicher Therapie ist diese stark vermindert. Wenn Du also in einer Beziehung lebst, insbesondere wenn Dein Partner, Deine Partnerin HIV-negativ ist, kann dir eine Therapie nicht nur im medizinischen Sinne, sondern auch zwischenmenschlich helfen. Auch wenn Dein Sexualleben in einer wilden Phase ist, schützt Dich eine frühe Therapie vor „Betriebsunfällen“ mit unangenehmen Folgen bei geplatzten Gummis.
Mein Arzt macht soviel Druck wegen der Therapie
Diese Klage hört man oft. Dazu ein paar Überlegungen: Der Arzt ist ein Mensch wie Du und ich, vielleicht steht er unter Zeitdruck, oder Deine HIV-Infektion wurde in einem späten Stadium festgestellt (in der Schweiz ist dies bei 25 Prozent der Patienten der Fall). Sicher arbeitet er nach bestem Wissen und Gewissen. Wenn Du für die Therapie bereit bist, kein Problem, wenn nicht, dann nimm Dir die Zeit, und suche ein Gespräch mit einer Drittperson – eine Pflegefachperson, oder eine Beratung bei einer regionalen Aidshilfe.
Eine oder zwei Wochen Zeit hast Du eigentlich immer. Wenn Du spät dran bist, Deine CD4 bei 50 sind – auch dann fällst Du nicht morgen tot vom Stuhl. Du wirst in diesem Fall sofort Antibiotika nehmen müssen, um möglichen sogenannt opportunistischen Infekten vorzubeugen. Das gibt Dir etwas Zeit zum Nachdenken, für weitere Gespräche, um mit Deiner Diagnose ins Reine zu kommen.
Überlege Dir vor dem Therapiebeginn generell und ehrlich, wie es um eventuell mögliches Suchtverhalten in Bezug auf Drogen, Zigarettenrauchen und Alkohol steht. Das erleichtert Deine Kommunikation mit dem Arzt bedeutend. Je ehrlicher Du zu Dir selber bist, desto besser hast Du Dich und Deine künftige Therapie im Griff.
David H.U. Haerry
POSITIV 5/2010 © Aids-Hilfe Schweiz