Swiss Patient Forum 2021: « Patienten in einer Pandemie »
Patienten in einer Pandemie war Thema des vierten Swiss Patient Forum von EUPATI Schweiz vom 19. März 2021 – dieses Mal Covid-bedingt virtuell durchgeführt. Wie üblich bestand das Forum aus einem Workshop für Patienten und deren Vertreter, gefolgt von einem Plenum mit Gesundheitsfachleuten. EUPATI Schweiz dankt Mark Bächer und seinem Team von Life Science Communication für Moderation und Technik, den Pharmafirmen, Bayer, Janssen und Takeda für die finanzielle Unterstützung, dem Organisationsteam, sowie den Interviewpartnern und Teilnehmenden für ihr aktives Mitwirken. Dieser Artikel fasst die Gespräche in den Workshops zu den verschiedenen diskutierten Aspekten zusammen.
Medizinische Aspekte: Dank eines vielfältigen Angebots von Gemeinden und Hilfsorganisationen kam es zu keinen ernsthaften Engpässen bei der Medikamentenversorgung oder bei der Betreuung von Patienten. Wesentlich dazu beigetragen hat eine gut funktionierende, spontane Solidarität, sowie die Freiwilligenarbeit, etwa im Rahmen von Nachbarschaftshilfen. Gewisse Bereiche im Gesundheitswesen waren durch Covid-Patienten stark gefordert, weshalb nicht dringende Arzt- und Spitaltermine, wie etwa Untersuchungen, Behandlungen, Therapien oder auch Operationen verschoben werden mussten. Durch telefonische Absprachen oder E-Mail-Kontakte wurden Verunsicherungen von Patienten vermieden, diese fühlten sich dadurch nicht im Stich gelassen und es kam zu keinen Unterbrüchen bei dringenden Behandlungen oder Kontrollen. Am Anfang der Pandemie gab es Engpässe beim Schutzmaterial. Nicht ganz ausgeschlossen werden konnten gewisse Verzögerungen bei routinemässig durchgeführten Untersuchungen und den sich daraus ergebenden Massnahmen oder Behandlungen, etwa im Rahmen der Früherkennungen von Krebserkrankungen.
Um den Ängsten vor einer Ansteckung im Wartezimmer einer Arztpraxis, im ÖV oder im Spitalbereich vorzubeugen, wurden Konsultationen oder Triagen vermehrt über die elektronischen Medien abgewickelt. Ferndiagnosen, etwa in Form von Telediagnosen, können allerdings nur in Ausnahmefällen den direkten Kontakt zwischen Patient/-in und deren Betreuenden ersetzen. Ein beträchtlicher zusätzlicher Aufwand war nötig für Eingangskontrollen, Hygienemassnahmen, Sicherheit, Triage und Zuweisungen von Patientinnen und Patienten in den Spitälern und bei der Pflege. Allerdings wurden hier deutliche regionale – für die Betroffenen nicht immer nachvollziehbare – Unterschiede festgestellt. Infolge der Covid-Situation wurden im Medizin- und Pflegebereich, aber auch bei Forschungsprojekten, Besprechungen und Meetings vermehrt über online-Tools abgewickelt, was, nicht nur bei der Patientenbetreuung, sondern auch in der Spital- und Forschungszusammenarbeit als Verarmung der zwischenmenschlichen Kontakte empfunden wurde. Offen bleibt auch die Frage, wieweit Covid die Priorisierung bei der Auswahl von klinischen Studien und Forschungsprojekten, aber auch das Studiendesign beeinflusst hat und welche wissenschaftlichen und ethischen Fragen dies aufwirft.
Daraus wurde gefolgert, dass Strategien für die Bewältigung von Pandemien – aber auch für Impfkampagnen – besser national koordiniert werden sollten, um kantonale/regionale Alleingänge zu vermeiden. Die Hausärzte/Ärztinnen wünschen in solchen Situationen besser und frühzeitiger einbezogen zu werden. Den gleichen Wunsch äusserten auch Patientenorganisationen, die von den Behörden immer noch zu wenig als Partner wahrgenommen werden. Konsens bestand beim Wunsch nach einer Beschleunigung der Impfkampagnen sowie für eine Beteiligung der Schweiz am europäischen Impfpass. Die Pandemie hat erneut den Rückstand der Schweiz bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen aufgezeigt, ganz besonders beim elektronischen Patientendossier.
Pflege & Betreuung: Der direkte Kontakt mit Patientinnen und Patienten erwies sich als wesentliche Voraussetzung für die Qualität der Patientenbetreuung. Sowohl Patientinnen und Patienten als auch die Pflegenden wünschen sich eine über die rein medizinische Versorgung hinausgehende Betreuung. In einer Pandemiesituation ist es noch wichtiger als im Normalfall, die Eigenverantwortung der Patientinnen und Patienten zu stärken, Diagnosen und Behandlungen mit ihnen zu besprechen und Entscheide gemeinsam zu treffen.
Der bereits seit längerem bekannte Pflegenotstand durch Überbelastungen beim Pflegepersonal machte sich deutlich bemerkbar und Einbussen bei der Pflege konnten nicht ganz ausgeschlossen werden. Die Pflegenden wünschen mehr Anerkennung und Würdigung für ihre Arbeit, aber auch konkrete Massnahmen zur Aufwertung ihres Berufsbildes. Dazu gehören insbesondere Verbesserungen bei Lohn und Anerkennung, mehr Mitsprache und Mitverantwortung, Verbesserung des Arbeitsklimas und mehr Zeit für die Kontakte zu Patientinnen und Patienten. Verantwortlichkeiten seien klarer festzulegen und das Zwischenmenschliche solle im Fokus stehen.
Soziale Aspekte: Bei der Betreuung von Patientinnen und Patienten über telefonische Kontakte und die Beratung über Internet-Plattformen und ähnliche technische Mittel lag der Schwerpunkt klar bei den psychosozialen Aspekten und weniger bei der rein medizinischen Betreuung und Versorgung. Während der Pandemie war das Pflegepersonal – und ist es zum Teil immer noch – extrem starken Belastungen ausgesetzt, sodass negative psychische Auswirkungen auf die Pflegenden selbst, möglicherweise auch auf die von ihnen betreuten Patienten, nicht ausgeschlossen werden können.
Ausgegrenzte, Hilfsbedürftige und Randständige sind bei einer Pandemie noch stärker isoliert als sonst und es ist für die Sozialdienste nicht leicht, diese zu erfassen, um ihren besonderen Bedürfnissen bei Pflege und Betreuung gerecht zu werden. Ethische und gesellschaftspolitische Aspekte werden hier zu einer besonderen Herausforderung. Es braucht somit Massnahmen zur Bekämpfung sozialer Vereinsamung, zur Stärkung der Selbsthilfe und zur Förderung der Solidarität in der Gesellschaft.
Handlungsbedarf besteht auch bei der Förderung der Freiwilligenarbeit, für eine besseren Kooperation zwischen den verschiedenen professionellen und freiwilligen Akteuren, bei Massnahmen zur Entlastung und Unterstützung überforderter Angehöriger, für mehr Hilfe zur Selbsthilfe und zur Stärkung der Nachbarschaftshilfe. Genannt wurden weiter die Verunsicherung von Patientinnen und Patienten aufgrund der Überlastung des Pflegepersonals, die Angst vor Ansteckung in der eigenen Familie, physische und psychische Belastung durch Einsamkeit und Depressionen.
Plenum Nachmittag
Das Plenum am Nachmittag begann mit einer Kurzpräsentation der Schweizer Plattform von EUPATI durch deren Präsidenten Ivo Schauwecker und einer Zusammenfassung der Ergebnisse des Workshops vom Vormittag durch Nina Bruderer. Die nachfolgenden Interviews mit Gesundheitsfachleuten und die Diskussion mit den Teilnehmenden wurde durch Mark Bächer moderiert.
Patientenorganisationen (Rosmarie Pfau, lymphome.ch) mussten ihr Betreuungsangebot fast ausschliesslich über die elektronischen Medien aufrechterhalten, was jedoch eine Betreuung durch direkten Kontakt nie ersetzten kann; insbesondere war der Kontakt zu Patientinnen und Patienten ohne Zugriff auf elektronische Mittel erheblich erschwert. Im Vordergrund stand die psychosoziale Unterstützung (etwa bei Ängsten und Verunsicherung), sowie Fragen zur Covid-Impfung bei Risikogruppen und chronisch Kranken, zu möglichen Interaktionen mit den eigenen Medikamenten und schliesslich zu eventuellen Langzeitfolgen der Impfung. Chronisch Kranke, die, wie etwa HIV-Patienten, eine Langzeittherapie benötigen, schienen aufgrund ihrer persönlichen Erfahrung besser auf eine Pandemiesituation vorbereitet zu sein.
Spitäler (Dr. Veronica Bättig, Spitalhygiene Universitätsspital Basel) haben für aussergewöhnliche Situationen ein Notfallkonzept und einen Krisenstab, um die besonderen Anforderungen für Spital und Pflege zu bewältigen. Zu nennen sind hier Hygienemassnahmen, um Ansteckungen von stationären und ambulanten Patientinnen und Patienten zu vermeiden, die telefonische Kontaktaufnahme mit Patientinnen und Patienten für Spitalbesuche und Therapien, die virtuelle Betreuung über elektronische Medien sowie die Priorisierung von Untersuchungen und Therapien. Die elektronischen Medien sind allerdings nur eine Notlösung, die den direkten Kontakt nicht ersetzen können. Wichtige Therapien wurden zwar weitergeführt, klinische Studien, wo nötig, angepasst, letztlich hat jedoch im Spital die Betreuung der Patientinnen und Patienten eine höhere Priorität als die Durchführung von klinischen Studien.
Die grösste Herausforderung für die Sozialdienste (Dr. Marcel Delahaye, Corona Care Team Universitätsspital Basel) waren Ängste vor Ansteckungen sowie der Kontrollverlust bei stationären und ambulanten Patientinnen und Patienten, aber auch bei ihren Angehörigen. Vor allem beschäftige sie die Unsicherheit, wie lange diese Pandemie noch andauern könnte und mit welchen psycho-sozialen Langzeitfolgen zu rechnen sei. Der Fokus der weitgehend über die elektronischen Medien erfolgten Betreuung lag daher beim psychischen Wohlbefinden, da hier die Auswirkungen weit gravierender waren als im Bereich Medizin und Pflege. Eine gut funktionierende, spontane Solidarität erwies sich als besonders hilfreich. Als zusätzliche Herausforderung wurde die Betreuung von Jugendlichen genannt, die durch die psychischen Belastungen und auch durch die Isolation gegenüber Gleichaltrigen überfordert sind.
Aus der Sicht eines Hausarztes (Dr. Sébastien Jotterand, Haus- und Kinderärzte Schweiz) lag der Schwerpunkt bei der Betreuung (Coaching) von Risikopatienten. Die anfänglich noch nicht optimale Koordination (u.a. Mangel an Schutzmaterial wie Handschuhe, Masken, Gel, …) bei der Zusammenarbeit zwischen Medizinfachleuten und Behörden hat sich im Verlauf der Pandemie verbessert. Als besondere Herausforderung erwies sich der Abbau von Informationsdefiziten, die Stärkung der Solidarität, sowie Massnahmen gegen psychische Erkrankungen, Ängste und Depressionen. Eine positive Perspektive für Patientinnen und Patienten ergab sich durch die Aussicht auf eine baldige Impfung.
Ein Versorgungsengpass konnte dank der guten Aufstellung der Schweizer Pharmaindustrie (Dr. René Buholzer, Interpharma) und dank gut eingespielter, internationaler Zusammenarbeit vermieden werden. Die Versorgungssicherheit war nie ernsthaft gefährdet und die Auslandabhängigkeit der Schweiz blieb auf einem tragbaren Niveau. Positiv bewertet wurde, wie rasch die Pharmaindustrie Impfstoffe entwickelt und die erforderlichen Daten für deren Zulassung bereitgestellt hat sowie die gut funktionierende Zusammenarbeit mit Swissmedic, der Schweizer Zulassungsbehörde. Wichtig für die Versorgungssicherheit ist Diversität, sowohl bei der Beschaffung von Wirkstoffen als auch bei der Herstellung von Medikamenten. Kritisch war während der Pandemie nicht die Entwicklung und Zulassung der Impfstoffe, sondern die Herstellungskapazität. Schnelle Notzulassungen von Medikamenten oder gar ein Aufheben des Patentschutzes, sind aus Pharmasicht keine gute Lösung, da bei Medikamenten und Impfstoffen Sicherheit vor der Schnelligkeit kommen sollte. Das Mandat von Swissmedic darf auch nicht durch Parallelimporte unterlaufen werden, weil dann Qualität und Sicherheit nicht mehr garantiert werden können. Bei der Frage der Vergütung und der Festlegung der Preise – hier ist das BAG zuständig – wurden einige Verzögerungen festgestellt, die zu vermeiden gewesen wären.
Auch für eine Behörde wie Swissmedic (Dr. Karoline Mathys) war die Pandemie eine grosse Herausforderung, die nur dank eines effizienten Krisenstabes mit einer Task Force gemeistert wurde. Eine Priorisierung der Arbeiten ermöglichte eine rollende Zulassung von Impfstoffen und Medikamenten, da Daten klinischer Studien laufend von der Pharmaindustrie zur Auswertung übermittelt wurden. Notzulassungen oder temporäre Zulassungen, wie sie in einigen Ländern möglich sind, sind bei Swissmedic kein Thema, da Qualität und Sicherheit der Medikamente im Vordergrund stehen, dies sowohl beim Herstellungsprozess als auch bei der Wirkung an Patienten. Zur Erfassung von unerwünschten Reaktionen bei Medizinprodukten betreibt Swissmedic im Rahmen der Post Marketing Surveillance ein online Tool für Medizinfachleute. Dabei geht es in erster Linie um die Erfassung von noch nicht bekannten oder schwerwiegenden Nebenwirkungen. Patientinnen und Patienten können unerwünschte Nebenwirkungen über ihre Ärztin oder ihren Arzt melden.
Wichtig war für allen Teilnehmenden eine gründliche Aufarbeitung der Pandemie, um deren Auswirkungen auf die verschiedenen Bereiche unserer Gesellschaft objektiv zu erfassen, wobei – aus der Sicht der Patientinnen und Patienten – auch psychosoziale Auswirkungen wie etwa Depressionen und die Langzeitfolgen einer überstandenen Covid-Infektion erfasst werden sollten: Welche Lehren sind draus zu ziehen? Was hat gut funktioniert? Was war weniger gut? Wo fehlten die Mittel? Nach welchen Grundsätzen sind Massnahmen zu priorisieren? Wo braucht es mehr Koordination? Welches ist die Rolle der einzelnen Akteure und wie ist die Kommunikation zwischen ihnen zu verbessern? Welche Rolle sollte der Bund einnehmen und welches ist die optimale Rollenaufteilung zwischen nationalen und regionalen Behörden und Akteuren?
Hansruedi Völkle / Juni 2021
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