Sollen HIV-Patienten auf Kaletra ihre Klinik kontaktieren?

057 COVID19 Stigmas Deutsch

Am vergangenen 16. März publizierten wir einen Aufruf an die Schweizer HIV-Patienten mit Kaletra in der Therapie. Diese sollten ihre Klinik kontaktieren und nachfragen, ob sie vielleicht ihre Therapie umstellen könnten, damit das Medikament für COVID-19 Patienten gebraucht werden kann. Es gab einige Leute die meinten, wir seien verrückt geworden. War dieser Aufruf berechtigt?

Wir wussten, dass die meisten der in der Schweiz auf Kaletra verbliebenen Patienten problemlos umgestellt werden können. Nicht alle, aber die meisten. Wir wussten auch, dass in den Schweizer Kliniken Kaletra sehr knapp war und dieses jetzt vor allem für hospitalisierte COVID-19 Patienten gebraucht wird. Wir haben die Universitätskliniken und die am schwersten betroffenen Tessiner Spitäler kontaktiert, und fast alle begrüssten diese Solidaritätsaktion.

Und dann kam zwei Tage später die Publikation einer chinesischen Studie im New England Journal of Medicine[1]. In einer ersten randomisierten Studie wurden 99 COVID-19 Patienten mit Kaletra behandelt. Die gleich grosse Kontrollgruppe erhielt eine sogenannte Standardtherapie mit Sauerstoff, Ventilation, Antibiotika usw. In dieser Studie wurde kein Effekt von Kaletra festgestellt. Musste man Kaletra jetzt abschreiben, war unser Aufruf sinnlos? Nein, dafür ist es noch zu früh. Dass Kaletra einen Effekt auf den Erreger SARS-CoV-2 hat, haben die Chinesen festgestellt. Die Patienten in der publizierten Studie waren bereits sehr krank und in fortgeschrittenem Stadium. Möglicherweise kam für sie die Behandlung zu spät. Denn die Studie zeigte auch, dass Patienten, welche das Medikament innert zwölf Tagen nach Beginn der Symptome bekamen, einen leicht besseren Verlauf hatten.

Zudem wussten wir auch, dass die WHO eine grosse globale Studie plant – diese hat sogar zwei Arme, in welchen Kaletra eingesetzt wird. Unsere Spitäler werden sich wohl daran beteiligen. Die Schweizer Kliniken setzen das Medikament nach wie vor ein, um schwerkranke COVID-19 Patienten zu therapieren – zusammen mit anderen Substanzen. Es gibt im Moment keine wirklich funktionierende Therapie gegen COVID-19. Die Kliniken unternehmen deshalb alles, um Menschenleben zu retten. Ältere HIV-Patienten mögen sich erinnern – Mitte 80er Jahre waren wir am gleichen Punkt. Unsere Ärzte haben damals alles Mögliche und Unmögliche versucht, um uns Menschen mit HIV das Leben zu retten.

Gibt es andere Substanzen gegen COVID-19?
Hydroxychloroquin, ein altes Malariamittel, wurde von Präsident Trump als Game Changer angepriesen, was natürlich Unsinn ist. Dieses wird gerne mit Kaletra zusammen eingesetzt. Schliesslich gibt es Remdesivir, welches gegen Ebola entwickelt wurde, aber dort zuwenig wirkte. Aufgrund der Labordaten wäre das die wirksamste Substanz, doch sie steht bereits nicht mehr zur Verfügung: Der Hersteller Gilead hat das «Compassionate Use» Zugangsprogramm gestoppt, weil dieses die globalen Anfragen nicht mehr bewältigen konnte. Am Samstag 28. März hat der Gilead CEO ein sogenanntes «expanded access» Programm angekündigt. Dies wäre ein einfacheres Zugangsverfahren als der sogenannte «compassionate use», weil eine Einzelfallbeurteilung nicht nötig ist. Ob ein «expanded access» in der Schweiz umgesetzt werden kann, werden wir in den nächsten Tagen sehen. Zusätzlich wird auch das Rheumamittel Actemra eingesetzt. Weiter überlegt man sich, das Serum von bereits geheilten COVID-19 Patienten therapeutisch einzusetzen. Wahrscheinlich beginnen diese Versuche in der Schweiz noch vor Ostern. Die Informationen ändern sich täglich. Wir bleiben am Ball und melden uns bei Bedarf auf unserer Webseite, in unserer Facebook-Gruppe und in ganz wichtigen Situationen mit einem Newsflash.

Im Moment sind das noch alles individuelle Heilversuche. Die Schweizerische Gesellschaft für Infektiologie hat Behandlungsrichtlinien erstellt, die in der ganzen Schweiz befolgt und ständig aktualisiert werden. Abschliessend können wir sagen, dass die internationale Gemeinschaft, Gesundheitssysteme, Forschende und Industrie in einem noch nie gekannten Ausmass zusammenarbeiten, um möglichst rasch wirksame Therapien zu finden und einen Impfstoff gegen das SARS-CoV-2 Virus zu finden.

Wichtiger Hinweis
Derzeit ist noch keine wirksame Behandlung gegen COVID-19 bekannt. Die in diesem Text beschriebenen therapeutischen Ansätze werden in spezialisierten Kliniken ausschliesslich von Ärztinnen und Forschern unternommen. Bitte versucht nicht, allfällige COVID-19 Symptome mit den erwähnten Substanzen selbst zu behandeln!

 

1. https://www.nejm.org/doi/10.1056/NEJMoa2001282

 

David Haerry / März 2020

 

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