Viele Patienten haben Mühe, ihre Krankenkassenprämien zu zahlen. Einige Kantone haben deshalb schwarze Listen erstellt. Die gelisteten Patienten erhalten dann nur noch medizinische Leistungen, welche als Notfallmassnahmen eingestuft werden. Für die Ärzte ist es ein ethisches Dilemma, für einen HIV-Patienten im Kanton Graubünden endete es tödlich – er ist Ende 2017 im Spital Chur verstorben. Die nach langem Hin und Her eingeleitete Therapie kam zu spät, er konnte nicht mehr gerettet werden.

Der Vorfall im Kanton Graubünden lieferte in den letzten Wochen einige Schlagzeilen in Fernsehen, Radio und der Tagespresse. Was ist passiert?

Ein 50-jähriger Mann verstarb im Spital Chur an einer Begleiterkrankung von Aids. Die Krankenkasse ÖKK hat sich mehrmals geweigert, dem Mann die HIV-Therapie zu bezahlen. Wegen ausstehender Prämienzahlungen stand er auf der schwarzen Liste des Kantons Graubünden. In so einem Fall müssen Krankenkassen nur noch Notfälle bezahlen. Was als Notfall gilt, ist nicht immer eindeutig. Ein Beitrag Schweizer Fernsehens aus dem Kantonsspital Baden schildert das Dilemma eindrücklich.1

Lisa Janisch von der Aidshilfe Graubünden ist entsetzt. Sie ist überzeugt, dass die schwarze Liste für den Tod des Patienten mitverantwortlich ist. Der Mann hat zweimal um die Bezahlung der Therapie ersucht. Erstmals bei der Diagnose „HIV-positiv“ und ein zweites Mal, als die Krankheit ausgebrochen war. Die Krankenkasse ÖKK hat in beiden Fällen die Bezahlung verweigert.


Öffentlich gemacht wurde der Vorfall in einem Artikel der Sonntagszeitung.2 Die Krankenkasse wollte sich zu diesem Fall nicht äussern und nennt Datenschutzgründe. Ein Sprecher der ÖKK bestätigt jedoch, dass HIV-positiven Patienten, die auf der schwarzen Liste stehen, die Medikamente nicht bezahlt werden. Das sei aber kein „reiner Entscheid der ÖKK“, sondern auch gesetzlich vorgeschrieben. „Wir dürfen vom Gesetz her nicht vergüten, wenn jemand auf der schwarzen Liste eines Kantons steht“, sagt der Sprecher. Das sei nur bei einem Notfall möglich.
Diese Begründung ist nicht nur bizarr, sondern für den Betroffenen Patienten tödlich.


Schwangere, Krebs, Diabetes, Hepatitis, HIV: Viele sind betroffen
Insgesamt führen 8 Kantone schwarze Listen, und auf diesen sind rund 33‘000 Patienten. Die Aargauer Zeitung berichtet am 23. Februar3 von 30 Krebspatienten, denen die Therapie verweigert wird. Auch gab es drei Fälle von Schwangeren, denen die Entbindung nicht bezahlt wurde. Das Kantonsspital Baden behandelt drei HIV-Patienten, denen die Behandlung eigentlich verweigert wird. Vier weitere Patienten sind akut gefährdet, auf der schwarzen Liste zu landen.4 Auch von Diabetikern, welchen das Insulin verweigert wird berichtet die Aargauer Zeitung.


In der Schweizer Hepatitisstrategie hat man das Problem schon vor einigen Monaten erkannt. Gross ist die Befürchtung, dass Menschen mit Hepatitis C auf schwarzen Listen sind und eine Heilung verweigert werden könnte. Um diesem Problem vorzubeugen, hat man sich die Schaffung eines Notfallfonds überlegt. Unklar ist aber, wie dieser finanziert werden könnte.

Das St. Galler Versicherungsgericht urteilte in einem Fall von Leistungsverweigerung bei einer Entbindung, diese sei im Zeitpunkt des Eintritts ins Spital notwendig und unaufschiebbar gewesen. Das Versicherungsgericht stellt fest, eine zu enge Auslegung des Notfallbegriffs würde das Ziel der obligatorischen Krankenversicherung und damit die Gewährleistung einer umfassenden Grundversorgung für alle aushöhlen.5

Schwarze Listen sind nutzlos
Der Nutzen der schwarzen Listen ist umstritten. Ein Studie im Auftrag des Kantons Zürichs kam zum Schluss, dass die Prämienausstände in Kantonen mit schwarzen Listen ebenso gestiegen waren wie in Kantonen ohne schwarze Listen. Das heisst: Die schwarzen Listen nützen nichts, weshalb der Kanton Zürich auf die Einführung einer solchen verzichtete.

Erste Kantone mit schwarzen Listen kommen zum gleichen Schluss. Der Regierungsrat des Kantons Solothurn schreibt, dass die schwarze Liste die medizinische Grundversorgung einer wirtschaftlich und sozial schwachen Bevölkerungsgruppe gefährde, während sich gleichzeitig die Zahlungsmoral nicht verbessere. «Nachweisbar sind lediglich die Vorteile für die Krankenversicherer.» Die Solothurner Kantonsregierung will darum ihre schwarze Liste entsorgen. Die gleiche Absicht hat man in Schaffhausen. Im Aargau, in Luzern und Zug gibt es ähnliche Bestrebungen. Der Thurgau betreibt ein „aktives Fall-Management bei säumigen Prämienzahlern“. Dieses sei erfolgreich, darum hält man an der schwarzen Liste fest. Im Kanton St. Gallen ist die Abschaffung zur Zeit kein Thema. Übrigens: Die Bündner Regierung hat das Führen der schwarzen Liste per sofort aufgehoben.

Bundesrat Berset redet Klartext
Das Fernsehen zitiert den Bundesrat: „Schon meine Vorgängerin hat gewarnt und gesagt, das gehe nicht. Man sieht jetzt ziemlich brutal, dass diese Listen nicht funktionieren.“ Es brauche eine Diskussion dazu, betont Berset. Jedoch seien die Kantone zuständig.

Im Nationalrat wird wohl in der Sommersession eine Motion eingereicht. Der Positivrat hat sich eine Anzeige gegen die Krankenkasse überlegt. Leider ist diese nicht möglich, weil der verstorbene Patient seine Erkrankung vor seiner Familie verborgen hat. Wir überlegen uns aber weitere Schritte, insbesondere eine Intervention bei der Gesundheitsdirektorenkonferenz und den Krankenkassenverbänden.

Entsetzen auch im Ausland
Das Systemversagen in Graubünden wirft hohe Wellen auch im Ausland. Man kann sich kaum vorstellen, wie so etwas in der reichen Schweiz passieren kann. Hoffen wir, dass Kantone und Krankenkassen zur Besinnung kommen. Das darf sich nicht wiederholen.

David Haerry / 24. Mai 2018

 

1https://www.srf.ch/news/schweiz/nach-tod-von-hiv-patient-debatte-ueber-schwarze-listen-entbrannt

2https://www.tagesanzeiger.ch/sonntagszeitung/kantone-nehmen-mit-schwarzen-listen-todesfaelle-in-kauf/story/15748314

3https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/wegen-schwarzer-liste-krankenkassen-verweigern-30-krebspatienten-die-zahlung-132241375

4https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/weil-krankenkasse-keine-hiv-medikamente-zahlt-aargauern-auf-schwarzer-liste-droht-der-tod-132518862

5http://www.20min.ch/schweiz/news/story/Richter-stoppen-Praxis-bei-schwarzen-Listen-31393398