Cover

Über das neue Buch «Positiv. Aids in der Schweiz» ist am 15.02.2018 untenstehender Artikel von Jen Haas in der Wochenzeitung veröffentlicht worden. Wir haben es ebenfalls gelesen, unsere Meinung dazu findet Ihr im Kommentar am Ende dieses Beitrags.

Unser doppeltes Coming-out

von Jen Haas
Die Wochenzeitung, 15.02.2018

Schwule, SexworkerInnen und FixerInnen sind von einer HIV-Infektion viel stärker betroffen als alle andern. Im neuen Buch «Positiv. Aids in der Schweiz» ist die Perspektive dieser «Risikogruppen» aber kaum vertreten.

Aids geht uns alle an: Genial war sie schon, diese PR-Strategie. Das verschlafene Bundesamt für Gesundheit liess sich vor dreissig Jahren dazu hinreissen und schaffte eine kleine Sensation: Die Bedrohung Aids brachte nicht das Schlechteste aus der Gesellschaft hervor, sondern, im Gegenteil, einen bewundernswerten Akt der Solidarität und einen erfrischenden Pragmatismus. Im Sinne dieser Bewunderung ist nun der schmale Band «Positiv. Aids in der Schweiz» erschienen.

Ein popkulturelles Ereignis

Die Idee zum Buch hatte der Werber David Schärer. Er gab dem Journalisten Constantin Seibt den Auftrag für ein Konzept. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) sicherte die Honorare zu, liess den zehn AutorInnen und dem Verlag aber freie Hand. Aufgerollt wird noch einmal, wie der Zusammenschluss zwischen Bundesbehörde und Betroffenenorganisationen die Seuchenbekämpfung in der Schweiz zum Positiven wendete. Sichtbares Resultat war die «Stop Aids»-Kampagne. Die knackige Idee einer Werbeagentur wuchs zu einem popkulturellen Ereignis an: Das Logo, der Slogan, die einfache Botschaft; der Clip mit dem «Röllele, röllele», der «Siitesprung»-Song von Polo Hofer, «Tagesschau»-Sprecher Charles Clerc mit über den Finger gestülptem Kondom – all das blieb in den Köpfen haften. Dass jeder und jede aus der «Generation Aids» eine mehr oder weniger amüsante Story parat hat, ist klar. Wer erinnert sich nicht an den ersten HIV-Test, an das verknotete Kondom unter dem Bett, an das Präservativ, das zum Lust- und Liebestöter wurde? Auch davon erzählt das Buch, das übrigens daherkommt wie ein verpackter Pariser.

Nur eben: Aids ging nie wirklich alle an. Betroffen waren in der Schweiz vor allem Schwule, intravenös spritzende Drogenabhängige, SexworkerInnen, MigrantInnen aus endemischen Ländern. «Risikogruppen», wie sie die ExpertInnen nannten. Sie erlebten Aids komplett anders. Dass ihre Perspektive nur spärlich in Seibts Anthologie eingeflossen ist, bleibt unverständlich. Dabei beginnt das Buch mit zwei starken Beiträgen: Sie sind gut recherchiert, packend geschrieben und schaffen es, die Anfänge der Kampagne und die Schicksale der direkt Betroffenen zu verknüpfen. Auch in den Personenporträts von «Positiv» kommen die Betroffenen da und dort vor. Gegenüber Polo Hofer, der zu seinem Song befragt wurde, und den persönlichen Erinnerungen von Michèle Binswanger oder Alexander Seibt verlieren sie jedoch an Gewicht.

Die Kapitel zu Prävention und Behandlung sind informativ, auch wenn nicht alle brennenden Themen angegangen werden. Andere Beiträge wiederum verrennen sich in Nebensächlichkeiten. Spätestens hier offenbart sich die Schwäche des Buchs: «Risikogruppen» kommen darin zwar vor, sind mitgemeint. Aber kann man Aids und die Aidsprävention wirklich verstehen, ohne explizit und spezifisch aufzuzeigen, wie etwa uns Schwule die Krankheit traf, was wir durchmachten, wie wir darauf reagierten?

Den Sex überleben

Für uns Schwule war die Krankheit der Super-GAU. Die aufkeimende Emanzipationsbewegung versprach neue Lebensfreude, und dann zerstörte der Virus alles, und zwar radikal. Junge Menschen starben. Wir befanden uns plötzlich im Zentrum eines Orkans. Aids wurde zum Strassenfeger, Schwule getrauten sich nicht mehr in die Bars, Discos, an die Cruisingplätze. Freunde und Bekannte verschwanden, und man begann zu spekulieren. Angst, Hilflosigkeit und Verdrängung bildeten den Bodensatz unserer Stimmung: Was stimmt nun wirklich? Hat es den auch getroffen? So schlimm kann es kaum sein. Kommt bald die Rettung? Wann hört es endlich auf?

Plötzlich begleitete der Argwohn jede Intimität. Wie irrational es auch war: Man suchte das Gegenüber automatisch nach Merkmalen oder sichtbaren Zeichen ab, um das Risiko fassbar zu machen. Nur allzu oft scheiterte die Strategie. Eine falsche Annahme, ein Missgeschick, ein geplatztes Präservativ, und schon begann die wochenlange Hysterie bis zum Testresultat. Was ja auch kein Wunder war. Etwa jeder sechste Sexualpartner in der Szene war angesteckt und ansteckend, an gewissen Orten wohl jeder zweite. Man führe sich dies vor Augen: Männer, die nach langer innerer Zerreissprobe ihre als krankhaft bezeichnete Sexualität akzeptiert hatten, mussten nun noch den Sex überleben. So mancher hatte sein doppeltes Coming-out: schwul und HIV-positiv.

Aids war eine Zumutung. Wie konnte man in einer solchen Katastrophe den Sex noch lustvoll gestalten? Sicher und lustvoll? Der Blümchensex der «Stop Aids»-Plakate meinte uns zwar mit, widerspiegelte unsere Realität aber nur am Rand. Rasch entwickelten wir eigene Strukturen, eigenes Material und eigene Strategien. Poppers, Fisting, Natursekt, Rimming, Gruppensex – die Broschüren machten keine Umschweife, auch nicht in der Bildsprache. Nicht immer verlief das konfliktfrei. 1991 musste die Aids-Hilfe Schweiz auf Druck der Öffentlichkeit die Broschüre «Safer Sex für Ledermänner» einstampfen.

In unseren Beratungszentren sprachen Verzweifelte über ihre Ängste, ohne den moralischen Fingerzeig befürchten zu müssen. StreetworkerInnen zogen an Wochenenden mit Präservativen durch die Szene und verteilten sie. Das Engagement, die offene und vorurteilsfreie Kommunikation, unsere Kreativität und der Lebensmut brachten uns zusammen. Dies verhinderte Neuansteckungen, verhalf aber auch zu neuen Ansätzen in der Prävention und trieb den Prozess der gesellschaftlichen Öffnung und Gleichstellung voran.

Hilfreiche Medikamente

Ab 1996 entspannte sich die Situation. Die neuen antiretroviralen Medikamente waren hochwirksam. HIV-Positive erkrankten und starben nicht mehr, sie waren auch nicht mehr ansteckend. Trotz aller Fortschritte: Die meisten Neuinfektionen finden immer noch unter Schwulen statt. Der Grund dafür ist die Art, wie wir leben und lieben, unsere Anfälligkeit für Depressionen, der Alkohol- und Drogenkonsum.

Daher haben wir weiterhin unsere Kampagnen. Und unsere eigenen Gesundheitszentren. Und unsere eigenen Strategien: Wir waren die Ersten, die sich das Präservativ überstreiften, und werden womöglich die Ersten sein, die es wieder weglassen. Denn die Medikamente verhindern nicht nur, dass die Krankheit ausbricht, sondern auch, dass man sich damit ansteckt. Das ist positiv. Und auch das ist Aids in der Schweiz. Mindestens ein Kapitel hätte man in einem Buch mit einem derart umfassenden Titel dafür aufbringen müssen.

 


Kommentar Positivrat

 

Wieder mal ein Buch zum Thema HIV in der Schweiz – diesmal mit Fokus auf die Schweizer Präventionskampagne. Die Kritik von Jen Haas bringt die Schwächen dieser Publikation auf den Punkt: Wie die Betroffenen, deren Angehörige oder durch HIV verängstigte Personen die letzten 35 Jahre erlebten, das kann man aus der Lektüre nicht einmal erahnen.

Wie auch Jen Haas betont, ist vor allem der Einstieg ausgezeichnet und vielsprechend. Die Anlage dieser Publikation ist aber sehr subjektiv. Ein Bundesamt betreibt während Jahrzehnten eine kostspielige Kampagne, mal sehr erfolgreich, mal etwas weniger. Und jetzt bestellt man sich per Auftrag an einen renommierten Journalisten eine Lobeshymne und klopft sich auf die Schulter.

Wäre man ein bisschen kritischer und überlegter ans Werk gegangen, hätte man durchaus Anlass für eine differenziertere Sicht gefunden. Zum Beispiel wie man sich seit vielen Jahren schwertut in der Migrationsarbeit. Wie man es nicht geschafft hat, die vielfältigen Diskriminierungen von Menschen mit HIV vor allem auch am Arbeitsplatz aus der Welt zu schaffen. Wie die Prävention für schwule Männer immer verkopfter und bemühter wurde – Stichworte «Break the Chains» und «Stoos Wochenende» – und man sich immer mehr von der Realität dieser Männer entfernte. Wie man als wissenschaftlich erwiesene Strategien als «unnötig für die Schweiz» verteufelte (ja, wir meinen die PrEP). Wie man andere sexuell übertragbare Krankheiten zum Elefanten machte, unnütze Massnahmen dagegen propagierte – nein, der Gummi nützt eben meist nichts – und vor lauter Eifer die sich bei Schwulen rasch verbreitende Hepatitis-C und die Bedeutung des Drogenkonsums beim Sex verschlafen hat. Und vor allem: wie man die Bedeutung der HIV-Kohortenstudie bei der Prävention nicht erkannt hat, weil man mit der Ärzteschaft nicht konstruktiv zusammenarbeiten wollte.

Fazit: Trotz einiger sehr gelungener Beiträge dominiert der Geruch einer bestellten Festschrift. Die kritische und fundierte Geschichte von HIV in der Schweiz muss man erst noch schreiben.

David Haerry / März 2018