Der Leiter des Ingrado und Epatocentro Ticino in Lugano, Dr. Alberto Moriggia, stellt bei seiner Begrüssung das Ingrado kurz vor. Das Institut ist spezialisiert auf Behandlungen und Entzugstherapien für Menschen, welche sich Drogen spritzen. Die Patienten kommen aus der ganzen Region und leiden häufig an Infektionskrankheiten, welche beim Teilen von Spritzen, Filtern oder Löffeln beim Flüssigmachen von Heroin übertragen werden können.

Die Hausordnung im Ingrado ist sehr bestimmt. Es darf kein Heroin an Ort konsumiert werden und der Handel damit ist auch verboten. Die Patienten können duschen, Kleider waschen oder sich medizinisch betreuen lassen. Drogenkonsumenten, die aussteigen möchten, werden im Ingrado professionell begleitet. Die Patienten werden als Menschen wahrgenommen, welche aus unterschiedlichsten Gründen zu Substanzen griffen.

Die Zukunft der HIV-Therapie skizziert Dr. Lorenzo Magenta vom Epatocentro Ticino: Schon bald werden Patienten statt täglicher Tabletten bloss noch eine intramuskuläre Depotspritze einmal pro Monat benötigen. Die heutigen Therapien sind auf Dauer eine enorme Herausforderung für alle Patienten. Bis zur Zulassung wird es zwar noch etwas dauern, interessant sind die Aussichten trotzdem.

Eindrücklich ist das Interview mit einem Betroffenen Patienten aus dem Ingrado. Dieser hatte drei gescheiterte Hepatitistherapien mit Interferon hinter sich. Die Nebenwirkungen waren derart heftig, dass die Therapien abgebrochen werden mussten. Seit letztem Jahr und einer Therapie mit den neusten Substanzen ist er nun endlich geheilt.

Dr. Philip Bruggmann von der Arud Zürich informiert über das Neuste zu Hepatitis C: Seit Oktober 2017 sind alle bisherigen Einschränkungen beim Therapiezugang aufgehoben. Die hohen Preise sind gesunken, und die Grundversicherung deckt alle Hepatitis C-Therapien. In der Arud Zürich kann Heroin in einem dafür zur Verfügung stehenden Injektionsraum konsumiert werden. Speziell ausgebildetes Personal klärt die Patienten auf, wie sie mit den Konsum-Utensilien besser umgehen. Dadurch lassen sich Abszesse oder andere Gefässverletzungen vermeiden.

Das Referat von Maria Teresa Ninni aus Turin über das Aufräum-Team, welches in den Strassen unter Brücken und in dunklen Gassen Putzdienste verrichtet, ist eindrücklich. Turin hat auch ein sogenanntes Peer-to-Peer Projekt, wo Betroffene einander helfen und unterstützen. Dieses Projekt motiviert die Teilnehmer, und sie werden von Fachleuten unterstützt.

Eine schriftliche Umfrage vor einem der Workshops zeigt, dass die anwesenden Pflegefachleute einiges weniger über HIV und Hepatitis wissen als sie erwarteten.

Oliver Vrankovic berichtet aus der Praxis vom Checkpoint Zürich. Unter schwulen Männern sind HIV-Positive etwas weniger stigmatisiert. Drogenkonsum ist an privaten und grösseren Parties ein wichtiges Thema. Die Gefahr ist gross, dass man im Rausch Dinge tut, die man eigentlich gar nicht machen will. Manch böses Erwachen endet darum im Checkpoint oder telefonisch an einer speziellen Helpline.

Sucht ist menschlich
Die Psychoanalyse hat es schon lange begriffen, doch wir Menschen tun uns trotzdem schwer damit: Die Flucht aus dem Alltag, ein Abheben im High-Sein, ein Verlangen sich auch mal glücklich fühlen zu dürfen – das gehört zu uns allen. Es gibt gesetzlich und gesellschaftliche akzeptierte, legale Substanzen und illegale oder von der Gesellschaft verpönte Substanzen.

Drogen und Süchte sind überall, und Deckmänteli gibt es viele:

Wäre es nicht hilfreicher, wenn wir aufhören würden, andere wegen ihren Süchten oder dem Konsum von „harten“ Drogen zu verurteilen? Wenn jemand eine solche Sucht entwickelt, trägt das nahe Umfeld dieser Menschen bestimmt auch dazu bei. Abhängigkeiten geschehen selten grundlos und können jeden betreffen. Vielleicht wäre es an der Zeit eine Peer-to-Peer Gruppe, wie man sie von den Anonymen Alkoholikern oder Weight Watchern her kennt, auf die Beine zu stellen. Was sich in Turin bewährt, könnte auch bei uns in Schweizer Städten funktionieren.

 

Matthias Bitterlin / November 2017