Newsletter POSITIV Juli/2021

EDITORIAL

Die Masken sind endlich ab, die Büros füllen sich wieder mit Leuten, die meisten Menschen mit HIV dürften wohl doppelt geimpft sein und der Sommer steht vor der Türe. Der Kalender mit wissenschaftlichen Konferenzen, welcher unseren Publikationsrhythmus beeinflusst, steht aber noch immer auf dem Kopf – die europäische Leberkonferenz, normalerweise Thema der zweiten Ausgabe, ging eben erst virtuell über die Bühne. Wir werden davon in der nächsten Ausgabe berichten, ebenso von der virtuellen IAS Konferenz, die im Juli stattfindet.

Diesen Monat jährte sich die «Entdeckung» von HIV zum 40. Mal. Am 5. Juni 1981 berichtete der «Morbidity and Mortality Monthly Report» der amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC zum ersten Mal von einer ominösen Lungenentzündung bei fünf schwulen Männern aus Los Angeles. Diese Ausgabe bringt dazu ein Interview mit Maxime Journiac, einem HIV-/HCV Aktivisten aus Paris und einen Artikel des HIV- und PrEP-Aktivisten Gus Cairns aus London.

Die Schweizer Tagespresse hat begonnen, die Covid-19 Pandemie aufzuarbeiten. Besonders gut recherchierte Artikel haben wir in der Neuen Zürcher Zeitung und in der Tamedia Gruppe gelesen. Ende Mai reflektierte die NZZ über das «Pannenamt BAG» und fragte sich, warum die während der HIV-Pandemie und auch in der Schweizer Drogenkrise international vorbildlich agierende Behörde dreissig Jahre später in Sachen Corona derart holprig unterwegs war. Diese Frage beschäftigt uns seit mehr als einem Jahr. Der Blick ins Ausland zeigt uns, dass es die anderen nicht viel besser machten. Hysterie, Panikmache, Hilflosigkeit und unüberlegte Massnahmen prägen den Umgang mit Covid-19 allenthalben – hat von HIV keiner was gelernt? Und denken wir kurz nach: Was ist denn damals – vor über dreissig Jahren – besser gelaufen?

Martin Dannecker, Sexualwissenschafter und schwuler AIDS-Vordenker meinte grad kürzlich, damals wäre die Hysterie noch sehr viel grösser gewesen. Und überhaupt hätten HIV und Covid-19 kaum was gemeinsam. Corona betreffe alle, während HIV von Anfang an in Beziehung zu Risikogruppen stand. Wir denken, Dannecker’s Sichtweise ist stimmig, solange wir die Optik auf Mitteleuropa beschränken. Dass es bei diesen Risikogruppen bleiben würde, war aber nicht immer klar – «HIV geht uns alle an», hat’s mal geheissen. Und in einigen Ländern sind die Hauptrisikogruppe nicht schwule Männer oder Drogenkonsumenten, sondern junge Frauen, die der Schulbank kaum entwachsen sind.

Letzte Woche, an der HTAi Konferenz 2021, verglich der HIV-Aktivist Neil Bertelsen die beiden Pandemien HIV und Covid-19. Bei HIV brauchten wir ganze 15 Jahre, bis wir wirksame Therapien entwickelt hatten. Auch damals entstand ein Vakuum, als die Grundlagenwissenschaften sich erst orientieren mussten, und dieses Vakuum wurde mit Falschinformationen, Ängsten und Diskriminierung gefüllt. Falschinformationen, wie «Gibt es das Virus überhaupt?» «Ist es menschengemacht und wurde es absichtlich in Umlauf gebracht?» «Kommen die AIDS-Symptome nicht von den Medikamenten, die man den Leuten gibt?». Ängste, wie «Wen muss ich meiden?», «Wo und wie steckt man sich an?», «Sollten wir nicht alle Infizierten einfach wegsperren?»; Diskriminierungen äusserten sich in Gleichgültigkeit gegenüber den Hauptbetroffenen und Gewalt gegenüber Teilen der Gesellschaft, welche man als «schuldig» identifiziert hat.

Wenn man an Covid-19 denkt, tönt das alles sehr vertraut. Die damaligen Gerüchte und Lügen konnten wir nur überwinden, indem wir das Publikum und die Betroffenen an Bord holten und ihnen zuhörten.

Wir hatten damals vor bald vierzig Jahren auch ein wenig «Glück» – dass die früh hart getroffenen schwulen Männer sich zu organisieren und für sich selber einzusetzen wussten. Während der Corona-Pandemie waren unsere alten Mitmenschen im Altersheim wehrlos und wurden allein gelassen. Alleinstehende Menschen, jeglicher sozialer Kontakte beraubt, versanken im Alkohol und Depressionen. Jugendliche wurden ungefragt aus den wichtigsten Phasen ihrer Sozialisierung ausgesperrt. All das geschah, ohne dass auch nur jemand gefragt hätte, was das mit den Menschen, mit der Gesellschaft macht. Dazu waren wir als Gesellschaft einem unkoordinierten medialen Sperrfeuer ausgesetzt – man konnte fast nur noch abschalten, um bei Sinnen zu bleiben. Heute wundern wir uns, wenn Bundesräte, Politiker oder andere exponierte Leute nicht mehr ohne Polizeischutz herumlaufen können, wenn Abstimmungskämpfe in aggressivster Art geführt werden, und wenn sich in vielen Mitmenschen eine schwer greifbare Aggression angestaut hat, die sich bei jeder Gelegenheit entladen kann.

Wir hatten damals auch mehr Glück mit unseren Behörden. Es war eine Generation am Schalthebel, die 1968 erlebt hatte, und die den Mut hatte, Risiken einzugehen und gewohnte Trampelpfade zu verlassen. Eine Generation, die rasch begriff, dass man den Kampf gegen eine Pandemie nur gemeinsam mit den Betroffenen gewinnen kann. Dass man diesen Menschen zuhören, und ihr Vertrauen gewinnen muss. Auf diesem Humus konnte eine fortschrittliche Kommunikations- und Präventionskampagne etabliert werden, die weltweit als vorbildlich wahrgenommen wurde. Wie konnten wir das nur vergessen?

Hat es jemand besser gemacht? Ja, ausgerechnet der Paria der Weltgemeinschaft Taiwan. Durch SARS und MERS schlau geworden, sehr viel früher alarmiert als WHO und träge reiche Industrienationen, zeigte uns die kleine Insel, dass man vieles besser machen konnte. Zwei Dinge fallen dabei auf: Zum ersten, ein viel reiferer Umgang mit der Digitalisierung und mit persönlichen Daten. Wir Schweizer nutzen Cumulus, Superpunkte, Facebook und Google, aber ein effizientes oder effektives Contact Tracing haben wir auch nach 18 Monaten Pandemie nicht auf die Reihe gekriegt, und die wunderbare Covid App verwelkt wohl ungenutzt auf den meisten smarten Mobilapparaten.

Zum zweiten, eine glaubwürdige und gut geplante Kommunikation durch das zuständige Gesundheitsministerium und seinen Vorsteher, Chen Shih-chung. Fast täglich informierte das taiwanesiche Ministerium um 14 Uhr über die Pandemie. Meist stand der Minister selbst auf der Bühne, auch wenn es kaum grosse Neuigkeiten gab. In den ersten 15 Monaten verzeichnete Taiwan keine zehn Toten bei einer Bevölkerung von fast 24 Millionen – mittlerweile sind es über 600, da sich die Insel nicht rechtzeitig genug Impfstoff sichern konnte. Ein Journalist fragte Minister Shih-chung, was er in einem europäischen Land anders machen würde. Seine einleuchtende Antwort: Er würde mit den Menschen sehr häufig kommunizieren, wie er es auf Taiwan mache. So wüssten die Leute, wie sich die Lage verändert. Nur eine gut informierte Bevölkerung schaffe die Voraussetzung, damit die Regierung effektiv handeln könne.

Damit sind wir wieder beim Thema Kommunikation. Glaubwürdig soll sie sein, kohärent und gut geplant. Sie soll versuchen, Risiken verständlich zu machen, und sie muss das Vakuum füllen, während die Wissenschaft ihre Hypothesen testet. Die Coronaviren bleiben unter uns, auch wenn wir geimpft sind. Noch ist es nicht zu spät, die Menschen mitzunehmen.

David Haerry / Juni 2021

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