Was Neuansteckungen mit HIV anbelangt, ist die Schweiz ist in einer eher komfortablen Lage – die Meldungen sind tendenziell seit Jahren rückläufig. Dies betrifft vor allem Neuansteckungen von Frauen. Sogar bei Männern die Sex mit Männern haben sind die neuen Ansteckungen eher rückläufig bis stabil. Das ist besonders ungewöhnlich in Europa. Trotzdem ist es interessant zu verstehen, in welchen Situationen HIV heute übertragen wird. Die HIV-Kohortenstudie hat dazu neue Informationen.

Der Beitrag der antiretroviralen Therapie zur HIV-Prävention wird heute weltweit anerkannt, denn Patienten mit unterdrückter Viruslast können HIV nicht mehr übertragen. Seit alle Therapierichtlinien weltweit auch die sofortige Therapie nach Diagnose empfehlen, sollte sich dies in sinkenden Ansteckungsraten niederschlagen. Wenn aber die Strategie funktionieren soll, müssen wir besser verstehen wann und warum HIV in der Schweiz heute noch übertragen wird.

Um die Übertragungsmuster in der Schweiz zu verstehen, wurden ein phylogenetischer Baum aus fast 20’000 schweizerischen und 91’000 ausländischen Virussequenzen erstellt. Aus diesem Datenpool wurden schliesslich die zu untersuchenden Transmissions-Paare aus der Schweiz indentifiziert.
Die Resultate lassen an Deutlichkeit wenig zu wünschen übrig. 44% der HIV-Übertragungen passieren im ersten Jahr einer Infektion. Die Wahrscheinlichkeit, dass der das Virus übertragende Partner nichts von seiner Infektion weiss ist also sehr gross. Das zweitgrösste Risiko für ein HIV-Übertragung sind Therapieunterbrüche – 14% aller Neuansteckungen werden so verursacht.

Für die HIV-Präventionsarbeit in der Schweiz sind das enorm wichtige Informationen. Fast 60% der Neuansteckungen passieren, weil die Leute sich frisch infiziert haben und nichts von ihrer Ansteckung wissen oder weil sie einfach die Therapie absetzen. Das heisst also, dass Menschen mit einem lebhaften Sexualleben mit mehreren Partnern unbedingt häufiger testen sollten als sie dies heute tun. Menschen, die sich frisch infiziert haben, sind besonders ansteckend weil sie sich ungenügend schützen und zusätzlich wegen der besonders hohen Viruslast während der Primo-Infektion (damit bezeichnet man die ersten zwei bis drei Monate nach einer Ansteckung). Unwissen und Biologie spielen sich also gegenseitig in die Hände.

Zum Zweiten müssen wir den Patienten besser erklären, dass sie unter Therapie auch ihre Sexualpartner schützen. Man soll ihnen noch besser einschärfen, ihre Therapie auf keinen Fall zu unterbrechen. Kleine Massnahmen also, und mit grossem Nutzen für das Gesundheitssystem.

Aufgrund dieser Daten müssen wir die heutigen Aufwendungen für die HIV-Prävention hinterfragen. Die gut sichtbare, aber kostspielige Love-life Kampagne lässt sich definitiv nicht mehr rechtfertigen. Gefragt ist nicht Spektakel, sondern bessere zielgruppenorientierte Feinarbeit.

David Haerry / Juli 2016

 

1 Alex Marzel et al, Swiss HIV Cohort Study SHCS, Clinical Infectious Diseases September 19, 2015, DOI: 101093/cid/civ732