Die Data Collection on Adverse Events in Anti-HIV Drugs (D:A:D) Studie ist eine Zusammenarbeit von 11 Kohortenstudien aus Europa, den USA und Australien mit 49’000 HIV-Patienten. Die Schweizerische HIV-Kohortenstudie SHCS beteiligt sich seit vielen Jahren an D:A:D. Im März 2008 präsentierte D:A:D zum ersten Mal Daten, welche beim Einsatz von Abacavir eine Steigerung des Herzinfarktrisikos um 90% nahelegten. Dieser Befund erschreckte viele Patienten. Die amerikanische Behörde FDA passte die Patienteninformationen an, die europäische Behörde EMA hingegen wollte dies nicht tun – die Daten galten als zu wenig beweiskräftig.

Nach den überraschenden D:A:D Erkenntnissen von 2008 versuchten mehrere andere Studien die Resultate ebenfalls zu reproduzieren – die Ergebnisse waren unterschiedlich. Einige Studien erzielten dieselben Resultate, andere aber nicht. Einige Studien zeigten beispielsweise auf, dass die Assoziation zwischen Myokardinfarkten und Abacavir verschwand, wenn die Analysen für Nierenfunktionsstörungen und Drogengebrauch angepasst wurden. Meta-Analysen kamen auch zu unterschiedlichen Daten. Weitere Studien versuchten, die Mechanismen zu verstehen, welche den Zusammenhang erklären könnten.

Kohortenstudien sind Überwachungsstudien und haben den Nachteil, dass verschiedene Einflussfaktoren auf die Resultate einwirken können. Wenn diese bekannt sind, kann man sie berechnen und berücksichtigen, wenn nicht, wird es schwierig. Idealerweise müsste eine sogenannte randomisierte Studie den Beweis erbringen, oder eine zweite Kohortenstudie müsste den Effekt bestätigen.

2008 wurde kritisiert, dass das Medikament bevorzugt an Patienten mit einem vorbestehend erhöhten Herzinfarktrisiko verabreicht wurde und der Effekt so entstand. Abacavir wurde nämlich früher anstelle von anderen, älteren Substanzen verschrieben, welche die Blutfettwerte beeinflussen. Aufgrund dessen wurde angenommen, dass Patienten, denen Abacavir verschrieben wurde, von vornherein ein höheres Herzinfarktrisiko hatten. In der älteren Analyse wurden andere mögliche Einflussfaktoren bereits berücksichtigt: Alter der Patienten, Übertragungswege bei der Infektion mit HIV, ethnische Faktoren, Kalenderjahr, Kohorte, Rauchverhalten, familiäre und persönliche Risiken, Body Mass Index sowie andere HIV-Medikamente. Spätere Analysen berücksichtigten auch Nierenfunktionsstörungen als Einflussfaktoren.

D:A:D zeigte zudem, dass das Risiko nach Absetzen von Abacavir offenbar verschwand, und dass beim Einsatz von Tenofovir kein kardiovaskuläres Risiko nachgewiesen werden konnte. Seit 2008 wurde in Behandlungsrichtlinien auf ein mögliches Risiko hingewiesen. Die Verschreibungspraxis hat sich deshalb seither verändert. Die eben publizierte neue Studie berücksichtigt das mittlerweile bessere Verständnis der möglichen Zusammenhänge.

Die Daten wurden während der Routineuntersuchungen gesammelt. Sie umfassen sozio-demografische Faktoren, AIDS-bedingte Erkrankungen und Todesfälle, kardiovaskuläre Risikofaktoren, Laborwerte wie CD4 und Viruslast, kardiovaskuläre Erkrankungen, Therapieinformationen und Medikamente welche das kardiovaskuläre Risiko beeinflussen. Es wurden dabei drei Gruppen gebildet – die erste ab 1999 bis 2000, eine zweite ab 2004 und eine dritte ab 2009.

Die komplexen statistischen Verfahren zu erläutern würde diesen Kurzbeschrieb etwas überlasten. Das Wichtigste in Kürze: Die Daten aller beobachteten Patienten wurden einmal pro Jahr analysiert und das kardiovaskuläre Risiko auf die nächsten 10 Jahre mit der Framinghamskala analysiert. Die analysierten Patienten wurden in Risikokategorien eingeteilt und klassiert mit einem vorbestehend tiefen (unter 10%), mittleren (10-20%) oder hohen (über 20%) Risiko für Herzinfarkte oder mit unbekanntem Risiko. Es wurde auch untersucht, ob sich der 2008 beobachtete Zusammenhang zwischen Abacavir Gebrauch und Herzinfarkten seit der ersten Studie verändert hat. Interessant ist, dass der Raucheranteil seit 2005 rückläufig ist, sich die Blutfettwerte verbessert haben, durch die verbesserten Therapien die CD4-Werte anstiegen und die Viruslast allgemein tiefer war. Der Gebrauch von Abacavir hat sich zwischen dem Jahr 2000 und 2008 von gut 10% auf fast 20% verdoppelt. Nach 2008 sank er wieder leicht auf 18% ab. In der Gruppe mit mittlerem kardiovaskulärem Risiko stieg der Einsatz von Abacavir von 15% im Jahr 2000 auf über 25% im Jahr 2008 und sank 2012 auf 21%. In der Gruppe mit hohem Risiko betragen die Werte 17,5%, 26,6% und 21,7%. Nach 2008 haben Patienten mit mittlerem und hohem kardiovaskulärem Risiko seltener eine Abacavir enthaltende Ersttherapie erhalten. Bei den gleichen Gruppen wurde seit 2008 Abacavir auch häufiger als früher durch andere Substanzen ersetzt.

Laut D:A:D ist der Zusammenhang zwischen Abacavir und höherem kardiovaskulärem Risiko unverändert sichtbar. Patienten unter Abacavir hatten ein doppelt so hohes Risiko für einen Herzinfarkt im Vergleich zu den Patienten, denen kein Abacavir verschrieben wurde. Unbekannte Einflussfaktoren können aber nicht ausgeschlossen werden. Weil Abacavir zunehmend in Kombinationspillen enthalten ist, müssen wir künftig von einem vermehrten Einsatz des Medikamentes ausgehen.

Seit 2008 versuchten einige Forschungsgruppen die D:A:D Resultate zu replizieren – das gelang nicht immer, wurde aber vor allem in Überwachungsstudien gemessen. Mehrere Meta-Analysen randomisierter Studien konnten den Effekt nicht nachweisen. Es ist aber möglich, dass die in diesen Studien eingeschlossenen Patienten generell gesünder sind und ein tieferes kardiovaskuläres Risiko aufweisen. Einer der Gründe für die fortdauernde Debatte ist der Umstand dass kein biologischer Mechanismus identifiziert werden konnte.

Schlussfolgerung
Die Autoren der D:A:D sehen nach wie vor einen starken Zusammenhang zwischen gegenwärtigem Abacavirgebrauch und Herzinfarkten. Trotz dieser neuen Daten wäre eine genügend grosse randomisierte Studie welche dem Sachverhalt auf den Grund gehen würde ethisch kaum vertretbar. Fazit: kristallklar ist der Zusammenhang nach wie vor nicht. Die Autoren empfehlen aber, dass das mögliche Risiko mit den Patienten diskutiert und eine informierte Entscheidung gefällt wird.

Kommentar
Der letzte Satz, die Diskussion mit dem Patienten, erscheint uns ganz wichtig. Dieses Gespräch muss geführt werden, aber es müssen auch viele andere Faktoren in die Diskussion einfliessen. Liegen kardiovaskuläre Risiken vor, die dem Arzt vielleicht gar nicht bekannt und dem Patienten nicht bewusst sind? Stichwort Rauchen (wieviel? – die meisten Kohorten wissen nur ja/nein, haben aber keine Mengenangaben). In vielen Kohorten sind bis 60% der Patienten als Raucher bekannt. Zweites Stichwort: Kokaingebrauch – vor allem in der Schweiz ein Thema. Geben das alle Patienten zu?

Es gilt auch, die Risiken anderer Medikamente zu berücksichtigen, zu diskutieren und zu beobachten. Die wirksame und risikofreie HIV-Therapie gibt es heute und morgen nicht. Man kann beobachten, abwägen, diskutieren und in vielen Fällen eine möglichst optimale Therapie anwenden. Und die wichtigste Botschaft betreffend kardiovaskulärem Risiko an alle Patienten: nicht rauchen, kein Kokain verwenden, ausgewogene Ernährung (Mittelmeerdiät) und regelmässige Bewegung – das spart Geld und hält gesund.

David Haerry / Oktober 2016

 

1 C. Sabin et al, “Is there continued evidence for an association between abacavir usage and myocardial infarction risk in individuals with HIV? A cohort collaboration”, BMC Medicine (2016) 14:61 DOI 10.1186/s12916-016-0588-4