Die Entwicklung der eigenen Identität und Autonomie in der Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt verlangt jungen Menschen viel ab. HIV-positive Jugendliche müssen sich darüber hinaus mit ihrer Krankheit auseinandersetzen. Bei gesunden Jugendlichen stellt sich die Frage der eigenen Lebenserwartung und zukünftigen Lebensqualität nicht – HIV-positive Adoleszente leben diesbezüglich mit einer existentiellen Unsicherheit. Zudem müssen sie die regelmässige Medikamenteneinnahme und die ärztlichen Kontrollen in ihr selbständiges Leben integrieren.

Wie gehen junge Menschen mit dieser Situation um? Verstehen sie ihre Infektion und können sie mit anderen Menschen in der Familie und im Freundeskreis darüber sprechen? Wie leicht oder wie schwer fällt ihnen die Medikamenteneinnahme? Dies waren die Fragen, die im Mittelpunkt der qualitativen Interviews standen. In sechs Zentren der Schweizerischen Mutter und Kind HIV-Kohorte, die ein Teil der Schweizerischen HIV-Kohorte (SHCS) ist, befragte ein Forschungsteam insgesamt 29 Adoleszente (darunter 7 Knaben und junge Männer) im Alter zwischen 12 und 20 Jahren.

Verständnis der HIV-Infektion 

„Meine Eltern nennen die CD4-Zellen ‚kleine Soldaten‘, aber ehrlich gesagt, verstehe ich nicht wirklich, was sie meinen, wenn sie sagen, alles sei in Ordnung“ berichtete ein 14jähriges Mädchen. Diese Aussage war repräsentativ für die Jüngeren unter den Befragten (unter 16 Jahren). Zwar wussten sie, dass die Infektion ansteckend war und Blut eine Rolle spielte – aber keine der jüngeren Jugendlichen konnte erklären, was eine HIV-Infektion eigentlich ist. Sie verstanden ihre Krankheit als eine Art Schicksal. Die meisten älteren Jugendlichen hingegen schienen eine genaue Vorstellung der Bedeutung der Infektion und der Implikationen für ihr Leben zu haben und verstanden auch, wie und dass sie von ihrer HIV-positiven Mutter infiziert wurden. Einige Ältere allerdings wehrten die Tatsache, dass sie infiziert waren, ab. So sagte eine 19jährige junge Frau: „Keine Bedeutung für mich… es ist, wie wenn ich nichts hätte… Nun, eigentlich habe ich auch nichts.“

Fehlende Gespräche

Die wenigsten Jugendlichen haben je darüber sprechen können, wie sie infiziert wurden. Nur ein Kind lebte mit beiden biologischen Eltern; rund zehn Mütter waren an Aids gestorben und sechs Kinder waren adoptiert. Vor allem jene, die alleine mit ihrer HIV-positiven Mutter lebten, berichteten, wie schwer es für sie sei, zuhause über ihre Infektion zu sprechen. Ein 15jähriges Mädchen sagte: „Ich will das nicht mit ihr besprechen, weil ich sehe, wie es ihr wehtut … Sie ist oft in Tränen ausgebrochen und hat gefragt ‚Warum nur habe ich Dir diese Krankheit gegeben‘“. Auch im Freundeskreis sprachen die meisten nicht über ihre Infektion, die Medikamente nahmen sie meist im Geheimen ein. Ärzte und Ärztinnen sollten, so folgerten die Forscher, ihre jungen Patienten auf diese Schwierigkeiten ansprechen und den Rahmen für Familiengespräche bieten. Trauer, Schuldgefühle und Ängste dürften im Beisein medizinischer Fachpersonen und im professionellen Raum einfacher auszudrücken sein.

Therapietreue

Die Ärzte und Ärztinnen von dreiviertel der befragten Jugendlichen schätzten deren Therapietreue als sehr hoch ein. Die jüngeren Patienten waren allerdings auf Erwachsene angewiesen, um sich an die Medikamenteneinnahme zu erinnern. Je älter die Jugendlichen waren, desto eher entwickelten sie eigene Strategien, um die Medikamente regelmässig einzunehmen: Einnahme morgens gleich nach dem Aufstehen, Post-It Kleber am Spiegel oder Handy-Signale. Die graduelle Übernahme der Verantwortung für die richtige Einnahme der Medikamente gehört zum Prozess der zunehmenden Autonomie in der Pubertät. Aber der Schritt in die selbständige und regelmässige Medikamenteneinnahme war für manche junge HIV-Patienten nicht problemlos, was mit der mangelnden Vorbereitung und fehlenden Gesprächsmöglichkeiten zusammenhängen könnte.

Auch die Beziehung zur medizinischen Betreuungsperson spielte eine wichtige Rolle. Wenn Jugendliche ihrer Ärztin/ihrem Arzt Schwierigkeiten bei der Einnahme eingestehen und eigene Vorstellungen einbringen und vorschlagen konnten, war die Therapietreue besser. Im Gegensatz dazu führte eine paternalistische Haltung der medizinischen Fachpersonen dazu, dass Jugendliche Schwierigkeiten verschwiegen und keine eigenen Strategien zur Einnahme entwickeln konnten.

Qualitative Studien sind zwar häufig nicht repräsentativ, sie können aber einen vertieften Einblick in ein Problem bieten und das Verständnis für Zusammenhänge wecken. Die Forschungsgruppe der vorliegenden Studie hat aus den Gesprächen praktische Empfehlungen abgeleitet: Medizinische Fachpersonen sollten erstens offene Gesprächssituationen mit der Familie ermöglichen und dabei auch schwierige Themen nicht meiden, sie sollten zweitens ältere Jugendliche auf ihre Therapietreue ansprechen und deren Eigeninitiative fördern und drittens das Phänomen der Rebellion und Verweigerung wahrnehmen, welches bei manchen Jugendlichen verhindert, HIV als Teil ihres Lebens zu akzeptieren.

Text: Shelley Berlowitz
P.-A. Michaud et al.: Coping with an HIV infection. A multicenter qualitative survey on HIV positive adolescents’ perceptions of their disease, therapeutic adherence and treatment, Swiss Medical Weekly 2010;140 (17 – 18);247–253  
POSITIV 2/2011 © Aids-Hilfe Schweiz