Die Gesellschaft der europäischen Kliniker aktualisiert jeweils im Oktober die Behandlungsrichtlinien. Die an der Europäischen Aids-Konferenz in Barcelona veröffentlichten EACS Richtlinien werden stark beachtet, weil sie den Konsens der Europäer abbilden und sehr praxisorientiert geschrieben sind. Wenig überraschend empfehlen nun auch die Europäer die sofortige HIV-Therapie für alle Menschen mit HIV. Damit ist der alte Streit „wann beginnen“ beigelegt. Weiterhin ist keine Harmonie beim „womit“ in Sicht.

 

HIV Therapie
„Wann wir beginnen sollen, das war für einmal der einfachste Teil der Arbeit“, meint Dr. José Gatell bei der Präsentation der neuen Richtlinien. Auch Europa hat bei der START-Studie mitgemacht (http://goo.gl/dPrPgK).
Neue Daten zum Einsatz der Integraseinhibitoren Dolutegravir und Raltegravir sind es vor allem, die für unterschiedliche Expertenempfehlungen sorgen. Das führt zu unterschiedlichen Empfehlungen in den Industrieländern, weil diese Moleküle in ärmeren Ländern noch nicht zur Verfügung stehen.

Beim sogenannten „Rückgrat“ der Therapie, den Nicht-nukleosidanaloga NRTI ist man sich weitgehend einig. Alle internationalen Richtlinien empfehlen Truvada (Emtricitabine und Tenofovir). Die Kombination Kivexa (Abacavir & Lamivudine) wird von EACS und den amerikanischen Richtlinien IAS-USA und DHHS ebenfalls empfohlen; die englischen Richtlinien der BHIVA sind etwas reserviert, man hat dort etwas Bedenken bei Patienten mit erhöhter Viruslast. Die WHO empfiehlt Kivexa überhaupt nicht, weil in vielen Ländern im Süden der genetische Test zum sicheren Einsatz von Abacavir nicht eingesetzt werden kann.

Am wenigsten eindeutig sind die Richtlinien jedoch beim dritten Medikament. Hier sorgt vor allem das alte Stocrin (Komponente von Atripla) für Diskussionen. Die alte Speerspitze der Therapie wird seit 1998 bevorzugt eingesetzt, und die WHO bleibt weiterhin dabei, entweder als Atripla oder Stocrin in Kombination mit Truvada. Von der Wirksamkeit her gesehen kann man das verstehen. Diese Kombination funktioniert extrem gut und gibt den Patienten auch die Freiheit, es mit dem Zeitpunkt der Einnahme der Therapie nicht so genau zu nehmen. Es macht gar nichts, wenn man am Wochenende 5, 6 Stunden später ins Bett geht und die Therapie erst dann nimmt. Trotzdem möchte der Schreibende mal die WHO probehalber unter Stocrin setzen – die Meinungen würden sich wohl rasch ändern. Ein Medikament mit dermassen schwerwiegenden Nebenwirkungen (vor allem im zentralen Nervensystem), gehört in die Mottenkiste verbannt. Alle anderen Richtlinien ausserhalb der WHO tun das auch – Atripla / Stocrin ist weg vom Tisch.

Die übrigen Richtlinien zeigen, dass hier die Meinungsbildung noch im Gange ist. DHHS wurde auch 2015 aktualisiert – die Klasse der NNRTI (dazu gehört Stocrin) wird nicht mehr für eine Ersttherapie empfohlen. DHHS empfiehlt nur noch Integraseinhibitoren sowie einen Proteaseinhibitor, Darunavir (Prezista).

IAS USA hat 2014 aktualisiert und empfiehlt noch 11 verschiedene Kombinationen zum Therapiestart, inklusive Efavirenz/Stocrin sowie die anderen NNRTI Etravirine und Rilpivirine und denProteaseinhibitor Atazanavir.

Die EACS hat sich ein wenig zwischen diese beiden extremen Positionen gesetzt. Man empfiehlt sechs Kombinationen zum Starten, vier davon mit Integraseinhibitoren (Truvada mit Dolutegravir, Truvada mit Raltegravir, die Kombipille Triumeq (Dolutegravir mit Kivexa) sowie Stribild (Truvada plus geboostetes Elvitegravir). Hinzu kommen für die Europäer die NNRTI Kombipille Complera/Eviplera (Truvada plus Rilpivirine) sowie Truvada plus geboosteten Proteaseinhibitor Darunavir.

In der Paneldiskussion wurde vor allem wegen Efavirenz/Stocrin gestritten. Die Europäer finden, die WHO würde besser einen Proteaseinhibitor einsetzen (wegen dem niedrigen Resistenzrisiko); die WHO möchte erst in 2-3 Jahren auf neue Pferde setzen, wenn Dolutegravir in einer generischen Form zur Verfügung stehen könnte.

 

PrEP und PEP
Hier sorgte die EACS für eine kleine Überraschung. Noch nie hat die Gesellschaft eine Intervention empfohlen, welche von den europäischen Behörden gar nicht zugelassen ist – es geht um Truvada als Prä-Expositionsprophylaxe in der Prävention von HIV. Die Studien PROUD und IPERGAY haben für die EACS die Frage nach Sinn oder Unsinn der PrEP eindeutig beantwortet. Die EACS äusserte sich gegen Ende der Konferenz noch mit einer Pressemitteilung, um dieser Meinung Nachdruck zu verleihen.

Allerdings schaut die EACS über die Vorbehalte wegen Nebenwirkungen der PrEP und dem fehlenden Schutz vor anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen nicht hinweg. Für die Gesellschaft gehört der Einsatz der PrEP in die Hände erfahrener HIV-Kliniker, was deren Einsatz bei HIV-negativen Patienten nicht gerade erleichtert.

Die EACS ändert ihre Meinung auch zur Post-Expositionsprophylaxe PEP, der, „Pille danach“. Die PEP wird nicht mehr empfohlen, wenn der zweite Partner unter Therapie mit unterdrückter Viruslast ist, und man empfiehlt nur noch Truvada plus Darunavir geboostet oder Raltegravir.

 

Hepatitis C Ko-Infektion
Die EACS empfiehlt den Einsatz von pegyliertem Interferon nicht mehr – was aus Patientensicht wegen der Nebenwirkungen sehr zu begrüssen ist. Doch der EACS ist bewusst, dass die neuen direkt wirksamen Therapien noch nicht in allen Ländern zur Verfügung stehen.

 

Mehrfacherkrankungen und Älterwerden
Dieses Kapitel der europäischen Richtlinien ist ein wenig deren Filetstück und der besondere Stolz der Gesellschaft. Georg Behrens, für diesen Teil mitverantwortlich, meinte denn auch bei der Präsentation, dass dieser Teil seit der letzten Ausgabe am meisten weiterentwickelt wurde. Es geht hier um älter werdende Patienten mit HIV, Krebs, Depressionen usw. Bei den älteren Patienten zeigen sich gewisse Erkrankungen häufiger oder in schwerer Form. Die sorgfältige Überwachung zum Beispiel der Nierenfunktion, aber auch der psychischen Gesundheit der Patienten ist also zentral.

 

Diskussion im Plenum
Aus dem Publikum kamen vor allem Fragen puncto Relevanz der Empfehlungen für Osteuropa – sprich Integraseinhibitoren, neue HCV-Therapien und PrEP. Die Preisdiskussion findet auch in Europa statt, und einige Entwicklungen sind schlicht nicht nachvollziehbar. Nachdem die Zulassungsbehörden alle Entscheidungen transparent kommunizieren und die Daten offenlegen, herrscht beim Thema Preise dicker Nebel. Mitverantwortlich sind hier auch die nationalen Behörden – man ist offenbar der irrigen Meinung, man könne ein bisschen mehr rausholen als der Nachbar, wenn man dies hinter verschlossenen Türen tut.Von Seiten der EACS will man sich für eine Verbesserung der Situation in Osteuropa einsetzen.

 

Hinweis für Patienten
Wenn Sie sehen, dass ein Medikament, das Sie nehmen, nicht mehr empfohlen wird, diskutieren Sie das mit Ihrem Arzt. Vielleicht ist ein Wechsel richtig und wichtig, vielleicht gibt es aber Gründe, beim bestehenden Medikament zu bleiben. Was gut verträglich ist und funktioniert, sollte man im Prinzip behalten. Der Autor nimmt selber Medikamente, die in dieser Kombination noch nie von irgendeiner Richtlinie empfohlen wurden und fährt ganz gut damit.

David Haerry / November 2015