Nationales Programm HIV und sexuell übertragbare Infektionen – warum wir nicht warten wollen

Am 25. August 2021 hat das Bundesamt für Gesundheit via Bundesratsentscheid die Entwicklung des neuen nationalen Programms HIV und sexuell übertragbare Infektionen (NHPS) auf die lange Bank verschoben, und dies ohne Konsultation mit den interessierten Parteien. Das NPHS soll die Zahl der Neuinfektionen senken und die gesundheitsschädigenden Folgen für die infizierten Personen minimieren.

Die bereits weit fortgeschrittenen Arbeiten waren wegen der Covid-19 Pandemie im Frühling 2020 unterbrochen worden. Damals konnten wir den Arbeitsunterbruch noch einigermassen nachvollziehen. Aber jetzt nochmals zwei Jahre warten?

Es ist frustrierend: Wir haben einen ausgereiften und von allen Akteuren akzeptierten «Fahrplan zur Überwindung von HIV und viraler Hepatitis bis 2030». Wenn wir diese ehrgeizigen Ziele einigermassen erreichen wollen, müssen wir alle rasch und koordiniert an die Arbeit, und wir müssen alle wirksamen Instrumente gleichzeitig einsetzen. Das jetzt zum zweiten Mal verlängerte Programm kann diese weder nutzen noch koordinieren, weil es sie bei der Konzeption des Programms noch gar nicht gab. Wir hatten damals gerade mal das «Swiss Statement» durchgeboxt. Dessen Bestätigung durch klinische Studien wie die Partner Studien 1 und 2 fehlten aber, es gab keine U=U Kampagnen und die Prä-Expositionsprophylaxe PrEP schon gar nicht. Die heutigen hochwirksamen Medikamente mit gegen 100-Prozent Heilungsraten gab es nicht: Hepatitis C wurde bloss im Spätstadium therapiert, denn die vorhandenen Medikamente waren nur bei einer Minderheit wirksam, die Behandlungen dauerten lange und die Nebenwirkungen waren derart schwerwiegend, dass an gleichzeitiges Arbeiten kaum zu denken war.

Warum ist die programmatische Wende nun so schwierig? Im Bundesamt für Gesundheit schiebt man Covid-19 vor und kaschiert damit langjähriges Ungenügen im Bereich übertragbare Krankheiten und öffentliche Gesundheit. Seit Monaten sind wichtige Stellen unbesetzt, Entscheide werden vertagt und die letzten bewährten Kräfte verlassen das Schiff. Nicht zuletzt: Auf dem Teppich des veralteten Programms haben sich einige Akteure bequem eingerichtet. Man darf darum nicht erstaunt sein, wenn die Lust auf ein neues NPHS auf Seiten einiger Nichtregierungsorganisationen begrenzt ist.

Wir haben am 24. November mit Larissa Rhyn von SRF geredet. Das BAG wollte auf unsere Kritik bloss schriftlich reagieren. «Die seit Beginn des Programms relevanten neuen Erkenntnisse verschiedener Disziplinen wie Biomedizin, Public Health und Sozialwissenschaften werden auch in der Verlängerung fortlaufend berücksichtigt.» Mit anderen Worten: ein Pflästerchen hier und ein Pflästerchen da – überzeugend wäre anders. Und wir erwarten nochmals zwei Jahre mit Millionen-Budgets für ärgerliche, nutzlose Love-Life Kampagnen mit «Bereue nichts» und Gratis-Rasenmähern und dem «Kondom als Botschaftsträger». Was vor zwanzig Jahren ein Reisser war, ist heute nur noch «gähn».

Wir befürchten in der weiteren Bekämpfung von HIV und Hepatitis einen Corona-Kollateralschaden. Die Akteure stehen da, sie wissen alle was zu tun wäre, doch sie haben kein Programm, keine Leitlinien, die sie führen und auf die sie sich verlassen können.

Dann wüssten wir auch ganz gerne, Ende November 2021, wie sich die Zahl der neu diagnostizierten HIV-Infektionen unter den schwierigen Bedingungen 2020 entwickelt haben. Möglicherweise stecken sie noch in einem Telefax im Berner Liebefeld.

PS: Nach Redaktionsschluss hat das BAG die 2020er Zahlen am 29. November endlich publiziert. Wenn wir eine wirksame Prävention betreiben wollen, brauchen wir die Zahlen schneller.

David Haerry / November 2021

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