Dr. des. Divine Fuh ist Ethnologe an der Universität Basel. Er stammt aus Kamerun und befasst sich seit vielen Jahren mit Fragen der männlichen Identität unter jungen Afrikanern, vorzugsweise in seinem Heimatland. Fuh war als Experte auch während mehrerer Jahre in HIV-Präventionsprojekten involviert und hat diverse Institutionen bei der Entwicklung und Lancierung nationaler Projekte beraten. Im Gespräch äussert er sich zum Phänomen multipler Partnerschaften in Afrika.

Lieber Herr Fuh, sind multiple Partnerschaften generell verbreitet in den Ländern der Region Subsahara-Afrika? Oder sind sie eine Erscheinung in bestimmten sozialen Gruppen?
Soweit ich sehe, ist dieses Beziehungsmuster gerade bei jüngeren Menschen im Altersbereich zwischen 15 und 35 ein weit verbreitetes Phänomen, und nicht nur in urbanen Regionen. Junge Frauen und Männer haben dabei ihre je eigenen Motive für die Führung mehrerer gleichzeitiger Beziehungen.

Handelt es sich um ein traditionell normiertes System, eine Art moderner Polygamie?
Ich würde Polygamie klar unterscheiden von dem Phänomen, um das es hier geht. Erstens war Polygamie ein stark normiertes System in Clangesellschaften, dass für das Individuum wenig Handlungsspielraum liess. Zweitens spielen die Frauen in modernen, multiplen Partnerschaften eine wesentlich aktivere Rolle. Ich würde es als eine Art modernder Beziehungswirtschaft bezeichnen. Meiner Meinung nach reden wir hier von einer Erscheinung, die keineswegs auf Afrika beschränkt ist. In vielen westlichen Ländern hat man ähnliche Phänomene beobachtet. Allerdings wird damit unterschiedlich umgegangen: in Frankreich sind multiple Partnerschaften ein diskussionsfähiges Thema, in der Schweiz nicht.

Als Beobachter hat man den Eindruck, dass dieses Beziehungsmodell erhebliche Ressourcen voraussetzt, dass es also eher eine Erscheinung in wirtschaftlich besser gestellten Gruppen ist.
Das entspricht nicht meinen Erfahrungen. Zwar mögen die Art und die Grösse der eingesetzten Ressourcen variieren, aber die Struktur des Modells ist nicht auf eine bestimmte soziale Schicht begrenzt. Man sollte auch bedenken, dass multiple Beziehungen in der Regel funktional differenziert sind. Beschreibungen wie die der „3 C“ oder der „Five Ministries“ (1), die sehr verbreitet sind, drücken das sehr treffend aus. Ein einzelner Partner muss also nicht alles leisten, sondern nur die von ihm erwartete Funktion erfüllen. Ausserdem investieren Partner in multiplen Beziehungen nicht nur eigene Ressourcen, sondern sie erhalten auch Gegenleistungen: Sex, Geld, Respekt, Status, Güter usw..

Die Anforderungen zwischen PartnerInnen verändern sich grundsätzlich immer mit der Zeit. Es erstaunt deshalb nicht, dass in unserem Zeitalter des Konsums junge Menschen „Beziehungswirtschaften“ betreiben. Und dass die entsprechenden Einstellungen dazu auch dem übrigen Konsumverhalten ähneln. Das ist aber keine afrikanische Besonderheit.

Präventionskampagnen in Europa haben dieses Phänomen bisher kaum thematisiert, obwohl die Fakten relativ gut bekannt und tw. auch untersucht sind. Man befürchtet hauptsächlich, damit die angezielten Publika abzuweisen, weil derartige Kampagnen als moralische Imperative verstanden werden könnten. 
In der Prävention sollte man nicht so tun, als existierte das Phänomen multipler Partnerschaften nicht. Aber ebensowenig sollte man es moralzentriert angehen. Es sollte einer der Aspekte sein den man, neben anderen, mit Präventionskampagnen anspricht. Denn es ist ein Aspekt, der mindestens für individuelle HIV-Risiken eine Rolle spielen kann. Und da es letztlich um ein gesundheitlichen Problem geht, sollte man auch auf die gesundheitlichen Aspekte fokussieren.

Erreicht man mit solchen Kampagnen etwas in Bezug auf die Neigung zu multiplen Partnerschaften?
Man kann in diesem Bereich ebenso gut etwas erreichen wie in jedem anderen Präventionsbereich. Die Frage ist, wie man die Sache zum Thema macht und wer das Zielpublikum sein soll. Wenn man über Sex spricht, hören gerade junge Leute immer sehr aufmerksam zu. Und sie sind sehr anpassungsfähig. Ich habe jedenfalls den Eindruck, dass in afrikanischen Ländern mit Kampagnen zum sexuellen Verhalten etwas erreicht wurde.

Danke für dieses interessante Interview.

 

Rainer Kamber, Aids-Hilfe Schweiz

 

(1) Der Ausdruck „3 C“ ist speziell unter jüngeren Afrikanerinnen verbreitet. Er steht für die materiellen Bedürfnisse, die junge Frauen durch ihre (ev. verschiedenen) Partner erfüllt haben möchten: „Car, Cash, Cellphone“. Ein Partner kann z.B. mit der Zahl der „C“, die er erfüllt, bewertet werden; oder er kann grundsätzlich als „3C“ bezeichnet werden.

„Five Ministries“ ist ein analoger Ausdruck, der in allen Altersgruppen bekannt ist. Er bedeutet wörtlich „5 Ministerien“ und damit sind gemeint: Transport (Auto), Kommunikation (Cellphone, Internet etc.); Aussenministerium (zuständig für Zugang zu Parties oder repräsentativen Veranstaltungen), Finanzministerium, Innenministerium (Wohnung, Komfort, Sexualität etc.). Der Innenminister ist in der Regel der feste Partner („Titulaire“).
Swiss Aids News 2, Juni 2010, www.aids.ch