Kurzbericht Europäischer Aids-Kongress EACS in London Oktober 2021

Lange im Voraus war klar, dass die Konferenz im Hybridformat durchgeführt werden sollte. Die Vorfreude auf eine richtige Konferenz war gross – trotzdem überwogen am Ende die Bedenken, und der Schreiber verfolgte die Konferenz vom Bürostuhl. Die wichtigen wissenschaftlichen Erkenntnisse kriegt man auch so mit, was fehlt ist der Austausch mit Kollegen, und die spontanen Diskussionen nach den Vorträgen.

Therapie

Die Dualtherapien werden immer beliebter. Zwei statt drei Substanzen reichen bei den meisten Patienten für eine langfristig wirksame Dauertherapie. Die heutigen Substanzen sind wirksam genug, um das HI-Virus zu zweit im Schach zu halten. Vielen Patienten ist es nicht einmal bewusst: Wer eine Kombinationspille nimmt, merkt gar nicht, ob da drei oder bloss zwei Moleküle in der Tablette sind. Längerfristig vermindert die Strategie die Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen, und natürlich interessiert sich auch das Gesundheitssystem dafür – Zweiertherapien sind in der Regel günstiger.

Als Auslaufmodelle erweisen sich die geboosterten Therapien. Diese enthalten eine Substanz, welche einzig den Zeck hat, die Verfügbarkeit eines anderen Moleküls zu erhöhen und damit die Wirksamkeit zu verbessern. Weil die Booster-Substanzen auch den Abbau von Begleittherapien beeinflussen, versucht man heute, wenn immer möglich auf solche Kombinationen zu verzichten. Auch deshalb wird die Wirkstoffklasse der Protease-inhibitoren kaum mehr eingesetzt, denn diese brauchen die unterstützende Boostersubstanz fast immer.[1]

Neue Substanzen

Auch in der Schweiz kurz vor der Einführung steht die intramuskulär verabreichte Dualtherapie aus Cabotegravir und Rilpivirin. An der EACS wurde dazu eine interessante Studie zur Einführung der Substanz in Kanada gezeigt. Die kanadischen Kliniken müssen ihr eingespieltes System neu überdenken: Es fehlen sowohl Platz als auch die Zeit, um in den stark besuchten Kliniken die regelmässigen Injektionen zu verabreichen. In den meisten Fällen werden die Injektionen deshalb ausserhalb durch spezialisiertes Pflegepersonal vorgenommen – in Grundversorgungskliniken, in Apotheken oder gar zuhause. Auch zeigt sich bereits, dass diese Therapieform keine Lösung für Patienten mit Adhärenzproblemen ist. 9% der Patienten wollten nicht bei dieser Therapieform bleiben – die Gründe waren Nebenwirkungen, meist Irritationen an der Einstichstelle, oder ein nicht weiter dokumentierter Patientenentscheid. Die Umstellung von der Injektionstherapie auf eine tägliche orale Einnahme ist problemlos.

Aus dem Islatravir Entwicklungsprogramm wurden an der EACS die neusten Daten präsentiert. Wir gehen hier nicht weiter darauf ein, denn in den letzten Wochen hat die Firma MSD drei Pressemitteilungen zu diesem Programm verschickt. In der Schweiz wurde die MK-8591-013 Phase 2 Studie von Islatravir mit einem neuen NNRTI mit einer Dosierung pro Woche abgebrochen, die Patienten sind wieder auf der alten Therapie. Bei der ebenfalls in der Schweiz laufenden MK8591A-017 Studie mit Doravirin/Islatravir als Dualtherapie wurde das Studienprotokoll mit einer Erhöhung der Überwachungsfrequenz angepasst. Patienten welche in die Studie eingeschlossen sind, können die Therapie fortführen.

Da Islatravir Potential sowohl für die Therapie wie auch für eine Anwendung in der Prävention hat, ist das bedauerlich. Wir hoffen aber, dass man die Daten in den nächsten Wochen besser versteht und das Programm mit Anpassungen weitergehen kann.

Änderungen in den EACS Therapierichtlinien

Die jährlich aktualisierten Therapierichtlinien haben sich zu einem Handbuch für den klinischen Alltag gemausert. Sie werden in der Schweiz stark beachtet – einige bekannte Schweizer Forschende finden sich unter den Autoren. Zudem ist jedem Kapitel der Richtlinien ein Patientenvertreter zugeteilt. Die wichtigsten Änderungen in der neuen Ausgabe in Kürze:

  • EACS unterscheidet neu «Empfohlene Kombinationen» und «Alternative Kombinationen» für die Ersttherapie.
  • Die Substanz Doravirine wird neu als Bestandteil einer erstmaligen Dreier-Kombination empfohlen.
  • Die Kombination Cabotegravir und Rilpivirine wird als neue Umstelltherapie alle zwei Monate per Injektion verabreicht empfohlen
  • Nicht mehr empfohlen: der Integrasehemmer Elvitegravir, die Proteasehemmer Atazanavir und Darunavir geboostert, die Kombination Darunavir geboostert mit dem Integrasehemmer Raltegravir sowie alle Kombinationen welche Abacavir beinhalten. Auch nicht mehr empfohlen wird die Kombination Atazanavir geboostert plus 3TC
  • Vollständige Aktualisierung des Kapitels zur Prä-Expositionsprophylaxe PrEP, inklusive Anwendung bei Bedarf für Männer und Empfehlungen zur Fortsetzung der PrEP während Schwangerschaft und beim Stillen
  • Aktualisierung der Kriterien für den Einsatz von Dolutegravir und TAF während der Schwangerschaft. Atazanavir und Lopinavir geboostert sowie AZT wurden gestrichen.

Psychische Gesundheit

Die traditionelle Community Session der European AIDS Treatment Group befasste sich mit diesem aktuellen Thema. Dabei wurde eine Umfrage der Weltgesundheitsorganisation WHO in Europa vorgestellt. Mehr als die Hälfte der Teilnehmenden hatten nie eine Untersuchung zu ihrem psychischen Wohlbefinden. Über 40% berichteten von psychischen Problemen vor der HIV-Diagnose, fast 60% danach. Mehr als die Hälfte der Befragten berichtet von Depressionssymptomen; über 60% sagten, dass dabei Stigma und Diskriminierungen eine wichtige Rolle spielen, und über die Hälfte sagt, dass sich ihre Lage seit dem Ausbruch der Coronavirus Pandemie verschlechtert hat.

Fazit: HIV-Therapien und Lebensqualität haben sich in den letzten 25 Jahren massiv verbessert – das psychische Wohlbefinden der Menschen mit HIV jedoch ist fast unverändert schlecht. Eine zentrale Rolle spielen Stigma und Diskriminierungen – und diese gehen nur dann zurück, wenn „nicht nachweisbar = nicht ansteckend“ massiv propagiert wird.
Eine englische Studie[2] befasst sich mit der psychischen Gesundheit von Menschen mit HIV während Covid-19. Die psychische Verfassung der Betroffenen verschlechterte sich deutlich, Depressionen und Angstzustände wurden häufiger, Alkohol- und Drogengebrauch nahmen zu und Schlafprobleme häuften sich. Dies hat auch einen Einfluss auf den langfristigen Therapieerfolg. Forscher aus Sizilien[3] berichten von sehr ähnlichen Erkenntnissen, sie erwähnen insbesondere einen negativen Einfluss auf die Adhärenz. Zum Thema Covid und psychische Gesundheit steht eine Forschungsarbeit von SwissPrEPared kurz vor der Publikation. Wir werden im Frühjahr darüber berichten.

Stigma und Lebensqualität

Auch hier picken wir das Wichtigste aus der Fülle von Präsentation heraus. Aus einer früheren Analyse wissen wir, dass viele Menschen mit HIV an chronischen Schmerzen leiden. Diese Schmerzen gehen einher mit Depressionen und einer verschlechterten Lebensqualität. Die POPPY Studie[4] untersuchte verschiedene Gruppen von Menschen mit HIV über 50 Jahren, welche in Schmerz-Sprechstunden kommen. Dabei schälten sich folgende drei Gruppen heraus:

  • 18.3% hatten häufige Rückenschmerzen
  • 15.2% hatten häufige Gelenkschmerzen
  • 9.2% hatten häufig überall Schmerzen

Die beiden Gruppen mit Gelenkschmerzen und Schmerzen überall waren schlechter ausgebildet und häufig arbeitslos. Wichtig wäre jetzt, diese Muster besser zu verstehen und dann gezielt zu intervenieren.

Erstaunliche Erkenntnisse gab es aus einer englischen Studie zu häuslicher Gewalt[5]. Die Behandlungsrichtlinien der englischen HIV-Fachgesellschaft empfehlen, HIV-Patienten alle 6 Monate nach vergangener oder gegenwärtiger häuslicher Gewalt abzufragen. Erstaunlicherweise wurden aber nur Daten von Frauen gesammelt. Seit dem Ausbruch der Coronavirus Pandemie melden auf häusliche Gewalt spezialisierte Organisationen in ganz Europa einen massiven Anstieg der gemeldeten Fälle um etwa 60%. Der Forschergruppe um Nadia Ahmed ging es nun darum, das Abfragen nach häuslicher Gewalt bei Menschen mit HIV zu verbessern, und dabei insbesondere die Männer nicht zu vergessen. Die gewählte Methodik führte zu überraschenden Resultaten – 55% der Betroffenen waren nämlich Männer, nur 36% sind Frauen. Die Mehrheit der betroffenen Männer sind nicht weiss, 80% sind schwul oder bisexuell – viele leben in einer gewissen Abhängigkeit von weissen Partnern. Nadia Ahmed betonte auch die Wichtigkeit wiederholter Fragen nach häuslicher Gewalt und einer etablierten Dialogkultur.

Women Against Viruses in Europe WAVE

Seit mehreren Jahren fokussiert sich ein Programm der Fachgesellschaft speziell auf Fragen, welche Frauen mit HIV in Europa betreffen. Programmleiterin ist Karoline Aebi-Popp, welche am Inselspital in Bern tätig ist. Der WAVE Workshop vor Eröffnung der Konferenz befasste sich mit den Themen Stillen, Frauen in klinischen Studien sowie Unterschiede in der HIV-Therapie je nach Geschlecht.

Zum Thema Stillen wurde eine Schweizer Stillstudie präsentiert[6]. Darin wurde gezeigt, dass die Hälfte der Mütter sich fürs Stillen entscheiden, wenn sie die Wahl haben. Interessant ist der Umstand, dass bei dieser Entscheidung der Zeitpunkt der Diagnose eine Rolle spielt – je länger die Frauen mit HIV lebten, desto eher wollten sie selber stillen. 85% der Frauen schätzten die angebotene spezielle Sprechstunde vor der Niederkunft, und dass sie in den Entscheidungsprozess eingebunden wurden.

Besonders wichtig war auch die Diskussion zum Thema Frauen in klinischen Studien. Es stört uns immer wieder, wie wenige Frauen in Studien teilnehmen. Dabei können wir hier in Europa Dinge untersuchen, welche für die vielen Frauen mit HIV in Afrika wichtig sind. Ein besonders heikles Thema ist der Einsatz neuer Substanzen bei schwangeren Frauen – oft sind diese besser verträglich, aber es fehlen die Daten welche uns zeigen, dass dies für die Mutter und das ungeborene Leben sicher ist.

Unterschiede zwischen den Geschlechtern zeigen sich auch bei den Diskussionen um „nicht nachweisbar = nicht infektiös“, besonders in Bezug auf die Mutter-Kind Übertragung und beim Stillen. Wichtig ist hier, dass sich die Ärzte Zeit nehmen und die Patientinnen in den Entscheidungsprozess einbeziehen.

David Haerry / Dezember 2021


[1] Angel J. Long-acting HIV drugs; translating clinical trial findings into clinical practice. Vortrag im Symposium ACT NOW: Long-acting drugs against HIV

[2] Gyampo S et al. Mental health issues in people living with HIV during the COVID-19 pandemic, EACS 2021 PE4/36

[3] Coco V et al: Change of perceived stigma anxiety and depression in people living with HIV infection before and during COVID-19 pandemic, EACS 2021 PE4/53

[4] Sabin C et al. Distinct groupings of people with HIV and pain associate differently with pain-related healthcare use and health-related quality-of-life (HRQoL): findings from the Pharmacokinetic and Clinical Observations in People Over Fifty (POPPY) study, EACS 2021 PE 3/18

[5] Ahmed N et al. Domestic abuse (DA) screening in people living with HIV (PLWH). 18th European AIDS Conference, London, abstract BPD 2/5, 2021

[6] Crisinel P-A et al. Successful implementation of new HIV vertical transmission guidelines in Switzerland. EACS 2021 poster abstract BPD 2/3

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