HOPE – 40 Jahre Leben mit HIV

Angela Lagler und David Haerry beleuchten verschiedene Themenkreise der Fachtagung HOPE der Aids-Hilfe Schweiz, die Anfang Oktober 2021 in Bern stattfand.

David Haerry

Nach einer launigen Begrüssung durch den Geschäftsführer der Aids-Hilfe Schweiz Andreas Lehner eröffnete der Lausanner Medizinhistoriker Vincent Barras die Vorträge. Er war als junger Mediziner 1981 bei einem Einsatz in der Gefängnisklinik in Genf zum ersten Mal mit dem damals noch unbekannten HI-Virus konfrontiert. Er berichtete farbenreich von früher medizinischer Arroganz gegenüber den Erkrankten und der später gewachsenen Einsicht, dass die Medizin im Kampf gegen das Virus nichts zu bieten hatte. Weiter erwähnte er die starke Mobilisierung vor allem in der schwulen Community in den USA und auch in Frankreich, und wie ein neues Denken in den Kliniken Einzug hielt. Auch in der Schweiz wurde die Prävention und die Betreuung Betroffener geprägt durch die unter dramatischen Umständen im Jahr 1985 gegründete Aids-Hilfe Schweiz – wir erinnern uns an das Outing von André Ratti im Schweizer Fernsehen. Barras schlug eine Brücke zur Covid-19 Pandemie, und machte ein paar Vergleiche. Bei HIV fanden Françoise Barré-Sinoussi und Luc Montagnier 1983 ein neues Retrovirus, welches sie LAV nannten. 1985 wurde klar, dass LAV identisch mit dem 1984 von Robert Gallo gefunden HTLV-III war. Ein Jahr später wurde das Virus dann definitiv HIV genannt. Bei Covid-19 dauerte die Identifikation des SARS-CoV2 bloss ein paar Wochen.

Puncto Medikamente hatten wir bei HIV unwahrscheinliches Glück: 1987 konnte die amerikanische Behörde FDA AZT zulassen. Dieses Medikament war bereits 1964 entdeckt worden, es erwies sich aber als unbrauchbar im Kampf gegen Krebs. Allerdings war AZT eine Waffe, die allzu schnell abstumpfte – zuwenig wusste man damals über Resistenzen, welche HIV sehr rasch entwickelte.

Schliesslich meinte Barras, bei HIV sei die Solidarität mit dem Süden grösser gewesen als heute in der Covid-19 Pandemie. Entweder hat der Schreibende den Redner falsch verstanden, oder der Redner irrt sich. Es hat fast zehn Jahre gedauert, bis die antiretrovirale Therapie im südlichen Afrika Realität wurde, und es brauchte sehr viel Druck und vor allem indische Generika. In der Covid-19 Pandemie hat man das Verteilproblem von Anfang an mitgedacht, und die Covax-Initiative gegründet. Diese hat bis heute zu wenig Impfstoffe, das ist richtig. Kann man es aber einer Regierung verübeln, wenn sie zuerst an die eigene Bevölkerung denkt?

Der nächste Redner, der Philosoph Karsten Schubert aus Freiburg hatte HIV und schwule Politik als Thema. Im Untertitel war dann die Rede von «queerer Solidarität durch PrEP». «PrEP beendet die Assoziation von schwulem Sex mit dem Tod» – so kann man es auf den Punkt bringen, ja. Man könnte es auch etwas weniger drastisch ausdrücken, und so möglicherweise das Publikum besser bei der Stange halten. Die wirksame PrEP lässt viele schwule Männer eine von Ängsten befreite Sexualität neu erleben, und dies auf beiden Seiten – trotz Swiss Statement und den Sprüchen «nicht nachweisbar = nicht ansteckend». Arbeiten müssen wir am Zugang zur PrEP, und wir müssen besser verstehen, warum gewisse Menschen die PrEP nicht nehmen. Die von Schubert gepredigte queer-politische Vereinnahmung der PrEP hilft uns da nicht weiter. Wir hätten uns einen Beitrag mit einem besseren Praxisbezug gewünscht.

Der Programmteil zu HIV und Stigma war wesentlich ergiebiger – Angela Lagler befasst sich in ihrem Beitrag damit. Die Lausanner Universitätsklinik CHUV hat in den letzten Jahren einige Ressourcen in das Thema Stigma gesteckt. Unter dem selbst betroffenen Projektleiter David Jackson-Perry werden in Lausanne mit grossem Engagement Programme entwickelt, welche die Waadtländer Patienten in ihrem Alltag unterstützen. Von einem dieser Projekte berichteten wir vor einem Jahr. Die spezifischen und patientenorientierten Versorgungsstrukturen in Lausanne werden weiterentwickelt, wir bleiben am Ball.

Der nachfolgende Beitrag von Enea Bacilieri, Hochschulen Lausanne und Zürich, zur Situation der LGBTIQ+ in Schweiz ist leider verunglückt. Das Thema wäre ja durchaus von Interesse, aber der Beitrag geriet zu lange, und es wurde am Publikum vorbeigeredet. Auch war der Bezug zum Kernthema der Veranstaltung entweder nicht vorhanden oder er war nicht ersichtlich.

Frisch gestärkt von einer längeren Pause folgte schliesslich aus unserer Sicht ein Höhepunkt. Drei Menschen mit HIV erzählten aus ihrer Realität, ihren Erfahrungen mit HIV, ihrem Alltag. Zwei Frauen und ein junger Mann, die alle noch nie auf einer Bühne standen und von sich erzählten. Drei Menschen, drei Geschichten, wie sie uns immer wieder berühren. Was die drei Leute auf der Bühne verbindet, ist die lange Isolation, das Alleinsein mit der Frage was Leben mit HIV jetzt für sie persönlich bedeutet, und die vielen Verletzungen, sei es im Gesundheitssystem, in der Familie, beim Daten oder beim Sex.

Zusammenfassend war es eine wichtige und hilfreiche Veranstaltung. Einiges ist uns aufgefallen, und wir möchten mithelfen, dies bei einer nächsten Ausgabe verbessern.

Menschen mit Migrationshintergrund sind wohl die wichtigsten Klienten in unseren Versorgungsstrukturen. Ihre Problematik wurde im Programm negiert. Das darf nicht wieder passieren.

Bei mindestens zwei Beiträgen fehlte uns der Bezug zur Realität und die Bodenhaftung. Wir würden von der Programmleitung gerne etwas früher konsultiert, dann liesse sich das vermeiden.

Mehrfach wurde betont, dass der Fokus für die Zukunft auf dem Prekariat liegen sollte, also auf Menschen, die in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen leben. Das ist ein Stück weit nachvollziehbar – man muss da sein, wo die grössten Probleme sind. Nichtsdestotrotz: es gibt Menschen mit HIV, denen es von aussen gesehen sehr gut geht. Auch das sind unsere Klienten, auch sie brauchen manchmal plötzlich Unterstützung und Beratung – besonders im Rechtsdienst, oder sie brauchen plötzliche psychologische Hilfe. In den letzten Jahren haben sich einige schwule Männer im Chem-Sex verirrt und den Boden unter den Füssen verloren. Vielerorts in der Schweiz gibt es für diese Leute keine Angebote, oder die bestehenden sind überlastet. Die verstärkte soziale Isolation während der Corona-Pandemie spüren wir überall – dieses aktuelle Thema wurde an der Tagung nicht aufgegriffen. Für die Aids-Hilfe Schweiz bedeutet dies also einen gewissen Spagat, was die Klienten anbelangt.

Trotz Simultanübersetzung war Genf schlicht nicht präsent. C’est inacceptable.

Angela Lagler

Gibt es Hoffnung? – Das fragte ich mich nach dieser Tagung mehr als zuvor.

Andreas Lehner der Geschäftsführer der Aids-Hilfe Schweiz (AHS) eröffnete die Tagung mit viel Charme, Witz und persönlichen Anekdoten. Das Ziel, HIV/Aids bis 2030 zu eliminieren, sei weiterhin präsent. «Wir brennen nach wie vor für das Thema» sagt er.

Den ersten Vortrag über die Geschichte von HIV schliesst Vincent Barras, Medizinhistoriker, mit einem Vergleich zur Corona-Epidemie. «Es hat 40 Jahre gedauert, um zu verstehen, dass es alle betrifft.» Bei Covid nur ein paar Wochen. Ist das so? Wurde wirklich verstanden, dass HIV alle betrifft?

Darauf folgte ein Vortrag zu «HIV und schwule Politik», über den David Haerry berichtet, dann ein Block zu HIV und Stigma, auf den ich weiter unten eingehe, gefolgt von einem Vortrag zur Situation von LGBTIQ+ in der Schweiz.

In der Abschlussrunde diskutierten zwei Frauen und ein Mann, die mit HIV leben, sowie Caroline Suter, Leiterin Rechtsdienst der AHS, und die Soziologin Vanessa Fargolo. Eine der beiden Frauen lebt seit 35 Jahren mit HIV. In so einer Runde vor Fachpublikum spricht sie das erste Mal öffentlich unter der Bedingung, dass sie anonym bleibt und es keine Fotos gibt. Sie sagte, «wenn ich sichtbar sein könnte, wäre ich das gewesen». Hoffnung? – Nach 40 Jahren Leben mit HIV sind solche Aussagen immer noch die Regel und nicht die Ausnahme. Die Ausnahmen sind Menschen, die Hoffnung geben und zeigen, dass es auch anders geht: jene, die offen zu ihrer HIV-Infektion stehen. Sie leben, ohne die Angst geoutet zu werden.

Vor einiger Zeit war die Prävalenz der HIV-assoziierten Stigmatisierung bei Teilnehmenden der Schweizer HIV-Kohortenstudie untersucht worden. Diese Studie stellte José Damas vom CHUV an der Tagung vor. Ich selbst nahm auch an dieser Studie teil. Mir ist aufgefallen, dass die Menschen in ihrem Stigma durch die gestellten Fragen bestärkt werden. Es gab keine positiv formulierten Fragen. Der Studie zufolge gibt es keine einzige Person, die nicht mindestens in einem Bereich von Stigma betroffen ist, egal welcher Herkunft und Hintergrund. José Damas spricht von einem grossen unsichtbaren Elefanten im Raum.

Ja, auch ich erlebe Stigma, obwohl ich öffentlich mit der Diagnose lebe und keine Diskriminierung im Alltag und Beruf erlebe. Aber wenn es um eine intime Beziehung geht, dann stehe ich vor einem Dilemma. Davon berichtete Isabel Cobos Manuel vom CHUV in ihrem Referat. Den Sexualpartner‘innen gegenüber ist man gesetzlich nicht mehr verpflichtet, seinen HIV-Status offenzulegen, wenn man unter wirksamer Therapie ist. Man kann niemanden mit HIV anstecken (U=U bedeutet, nicht nachweisbar = nicht übertragbar) und muss sich trotzdem folgenden Fragen stellen: Sage ich es oder sage ich es nicht? Und wenn ja, wann?

Das sind wohl die schwierigsten Fragen aller Fragen, denen sich Menschen mit HIV stellen müssen. Ist es nur eine flüchtige Sexualbeziehung, braucht es das Gegenüber nicht zu wissen. Was ist aber wenn sich daraus etwas Festes entwickelt? Sage ich es erst dann, fühlen sich viele Partner’innen betrogen. Die meisten Menschen erleben nach einem Outing in intimen Beziehungen immer noch Ablehnung. Deshalb verzichten einige auf Sex oder intime Beziehungen. Isabel Cobos berichtet auch von Frauen, die ein Kind bekommen haben, ohne dass der Kindsvater und Partner wusste, dass seine Partnerin mit HIV lebt. Heute, nach 40 Jahren Leben mit HIV!

Hoffnung? – Nur 4% der Bevölkerung glauben, dass die Botschaft von U=U stimmt.

Das zeigt eine Studie (HIV: Public knowledge and attitudes) aus England, die diesen Juli publiziert wurde. In der Schweiz werden es auch nicht mehr Personen sein. Mich wundert das wenig, solange in Kategorien wie MSM und Migration gedacht und gearbeitet wird.

Warum wird nicht verstanden, dass es bei allen Menschen, egal welcher Neigung oder Herkunft, um das gleiche geht? Sex!

Alle Menschen beschäftigen sich mit den gleichen grundsätzlichen Fragen und Ängste. Die Botschaft U=U muss in die breite Bevölkerung getragen werden und nicht nur in die spezifischen Communities. Denn auch ein Homosexueller oder eine Schwarzafrikanerin sind Teil der allgemeinen Bevölkerung und müssen zu einem weissen Zahnarzt, der Hetero ist oder sie möchten eine Beziehung eingehen.

David Jackson-Perry vom CHUV stellte deshalb in seinem Beitrag die Frage, ob es sein Job sei, im Alltag für Aufklärung zu sorgen. Auch er ist überzeugt, dass die Botschaft U=U in die breite Bevölkerung getragen werden muss. Es darf nicht bei den 4% bleiben.

Hoffnung? – Wenn nicht mehr in Kategorien gedacht wird und wirklich verstanden wird, dass HIV alle betrifft, dann habe ich Hoffnung.

Quellen:

HIV: Public knowledge and attitudes

https://www.nat.org.uk/publication/hiv-public-knowledge-and-attitudes#

Prevalence of HIV-Related Stigma among Partizipants of the Swiss HIV Cohort Study

https://www.chuv.ch/fileadmin/sites/min/documents/51801_20_DM_MIND_E.Kampouri.pdf

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