Im Oktober 2018 kontaktierte uns ein Leser. Er berichtete von einer Bekannten, die am Kantonsspital Winterthur therapiert und überwacht wird. Der Arzt hatte ihr bei Routinekontrollen zweimal bestätigt, dass ihre Viruslast unter der Nachweisgrenze sei. Darum ging sie davon aus, nicht ansteckend zu sein und hatte ungeschützten Verkehr mit ihrem Partner. Kurz darauf wurde bei ihm aber eine HIV-Infektion nachgewiesen. Ein nochmaliger Nachweistest mit einem anderen Verfahren zeigte aber, dass die Viruslast der Patientin tatsächlich nicht ganz unterdrückt war. Unser Leser stellte sich nun die Frage, wie weit er sich auf seine ebenfalls nicht nachweisbare Viruslast verlassen könne.

Wir haben damals sofort das Schweizer Referenzzentrum für Retroviren der Universität Zürich eingeschaltet und deren Leiter gebeten, der Sache nachzugehen. Das brauchte Zeit, denn man musste versuchen nachzuweisen, ob der verwendete Test tatsächlich unsicher war. Wir hatten noch nie zuvor von einem derartigen Fall oder von einem Testversagen gehört, auch das Labor der Universität Zürich nicht.

Nach langer Suche scheint die Sache klar: der angewandte HI-Viruslasttest hat in diesem Fall tatsächlich versagt. Wir wissen inzwischen von fünf ähnlichen Fällen aus Deutschland, und wir wissen, dass der Hersteller mehrmals die Packungsbeilage angepasst hat und dass laut dem deutschen Retrovirenzentrum der Test nur sehr eingeschränkt verwendet werden sollte: nämlich nur zur Therapiesteuerung bei HIV-Patienten, bei denen vor Therapiebeginn eine hohe Viruslast mit demselben Test gemessen wurde. Im Fall der Schweizer Patientin war diese Bedingung nicht erfüllt: Ihre Viruslast wurde vor Therapiestart nicht mit diesem Test gemessen. Diese Anwendungseinschränkungen waren dem Arzt und seinem Labor damals nicht bekannt.

Jetzt stellt sich die schwierige Frage, ob man sich denn auf die Viruslast-Nachweistests grundsätzlich verlassen kann, oder ob man diesen misstrauen muss. Hier können wir etwas entwarnen. Der fragliche Test wurde in der Schweiz kaum verwendet; die Anwendungseinschränkungen wurden den Labors kommuniziert. In der HIV-Kohorte wurde der Test gar nie eingesetzt. Er darf aber weiterhin verkauft werden. Das ist schwer verständlich, aber dazu mehr weiter unten.

Bedauerlich ist die Angelegenheit vor allem für die Patientin, die sich im Vertrauen wiegte und die jetzt verständlicherweise vermuten muss, ihren Partner infiziert zu haben. Ob die Patientin auch tatsächlich die Quelle dieser Infektion war, wurde nicht nachgewiesen – der finale Beweis fehlt damit. Aber das spielt hier keine Rolle. Zählen tut bloss: Der Test hat in dieser Situation klar versagt, die Patientin hatte eine nachweisbare Viruslast ohne davon zu wissen und ihr Partner ist jetzt auch angesteckt.

Das Vertrauen der Betroffenen in das System, aber auch in die Fachleute die sie behandeln, dürfte ziemlich erschüttert sein. Das müssen wir anerkennen. Bedauerlich ist auch, dass die Patientin beim Nachfragen in der Klinik das Gefühl hatte, nicht auf offene Ohren zu stossen. Das sollte nicht passieren. Die unglückliche Reaktion hat das Vertrauen der Patientin zerstört, und es hatte auch Auswirkungen auf andere Menschen, welche inzwischen von der Sache gehört hatten.

Die langen Abklärungen waren für die Beteiligten schwer nachvollziehbar. Das nationale Referenzzentrum für Retroviren in München hat im Mai 2019 erstmals in einer Publikation von fünf Fällen von Testversagen mit dem GeneXpert Xpert® HIV-1 Viral Load der Firma Cepheid in Deutschland berichtet. Aufgrund dieser Publikation verdichtete sich der Verdacht, dass ein Testversagen vorliegen könnte. Das nationale Retrovirenzentrum in Zürich hat Anfang September sämtliche Schweizer Labors auf die Problematik dieses Tests aufmerksam gemacht[1].Nach längeren Beratungen in der Eidgenössischen Kommission für Sexuelle Gesundheit EKSG hat nun auch das BAG in seinem Bulletin vom 16. September kommuniziert.

Warum versagte dieser Test?
Der GeneXpert Xpert® HIV-1 Viral Load der Firma Cepheid ist ein Verfahren mit nur einer Zielsequenz. Das HI-Virus wandelt sich bekanntlich sehr stark und macht beim Kopieren viele Fehler. Wenn nun in der einen Zielsequenz mehrere Mutationen, Deletionen oder Insertionen auftauchen, binden die Testsonden des Amplifikationssystems entweder gar nicht oder nur ungenügend. Bei Virusnachweistests mit zwei Zielsequenzen kann das fast nicht vorkommen. Bis dieser Hersteller mit einer neuen Testversion mit zwei Zielsequenzen auf dem Markt ist, sollte der alte Test laut dem deutschen Retrovirenzentrum für die Überwachung der Viruslast nur eingesetzt werden, wenn dieser Test vor Therapiebeginn bei der gleichen Person eine hohe Viruslast nachgewiesen hat. Besonders wichtig ist dies, wenn Patienten einen Arzt- oder Ortswechsel vornehmen und anderswo behandelt werden.

Wenn laute und nötige «U=U» Kampagnen gefahren werden, um die HIV-Infektion zu entstigmatisieren und um Patienten und ihre Partner aufzuklären, dann kommen solche Ereignisse äusserst ungelegen. Unsere Ärzte müssen den Laborresultaten vertrauen können, immer und ohne Ausnahme. Wir Patienten müssen unseren Ärzten vertrauen können, immer und ohne Ausnahme. Denn unsere HIV-negativen Partner vertrauen uns, dass wir unsere Therapie nehmen, und dass unsere Viruslast nicht nachweisbar ist.

Die Marktüberwachung bei Medizinprodukten versagt
Wenn bei einem Medikament ein Sicherheitsproblem auftaucht, reagieren Firmen und Behörden sofort, auch wenn die Gründe des Problems noch nicht bekannt sind. Letztes Beispiel waren Häufungen von Spina Bifida bei Neugeborenen in Botswana, deren Mutter Dolutegravir bekam – wir haben davon berichtet[2]. Weltweit wurden Frauen im gebärfähigen Alter, welche keine Schwangerschaftsverhütung verwendeten, informiert und zumeist umgestellt. 15 Monate später gaben die Behörden in diesem Fall Entwarnung, wir kommen separat darauf zurück.

Bei Medizinprodukten sind die Vorschriften viel lascher, und das zeigt sich hier exemplarisch. Gemeldet wurde uns der Fall vor bald einem Jahr, und wir haben das Referenzlabor sofort eingeschaltet. Im Frühjahr 2019 hat man uns bestätigt, dass möglicherweise ein Testversagen vorliegt. Kurz darauf kam die Publikation des deutschen Referenzlabors, welche von gleich fünf dokumentierten Fällen von Testversagen dieses Produktes berichtet. Es dauerte aber weitere vier Monate bis offiziell kommuniziert wurde[3]. Von Swissmedic, der für die Marktüberwachung von Medizinprodukten zuständigen Behörde, hat man über die ganze Zeit noch überhaupt nichts gehört. Solche Verzögerungen haben bei Medizinprodukten System.

Die Firma Cepheid hat die Packungsbeilage dieses Tests bereits zweimal angepasst, aber erst Monate später über diese Änderungen kommuniziert:

Der Grund für diese Anpassungen ist nicht transparent. Welche nationale europäische Behörde diese Änderungen verfügt hat, ist nicht nachvollziehbar. Diese offensichtliche Schlamperei wird amtlich toleriert – der Test kann zwar kaum mehr eingesetzt werden, hat aber weiterhin eine CE-Markierung und darf damit in ganz Europa verkauft werden. Das bestätigt das BAG im Bulletin vom 16. September 2019. Ein Medikament würde zurückgezogen und wäre vom Markt. Seit Mai 2017 ist die neue EU-Verordnung über Medizinprodukte in Kraft. Diese regelt die Rahmenbedingungen für die Erteilung der Conformité Européene CE. Beim Inkrafttreten der neuen Verordnung war allen beteiligten Akteuren bereits klar, dass die Verordnung den heutigen Anforderungen nicht genügt. Die Schweiz als führender Exporteur von Medizinprodukten kann sich in diesem Bereich keine eigenständige Gesetzgebung erlauben.

Das BAG bestätigt zwar, dass der Test in der HIV-Kohortenstudie nicht verwendet wird. Da werden mehr als 70% der Patienten therapiert und überwacht. Fast 30% der Patienten sind aber nicht in der Kohortenstudie – weil sie es nicht wollen, oder weil sie anderswo behandelt werden, zum Beispiel in Winterthur.
Wir fordern darum von Politik und zuständigen Behörden, dass Medizinprodukte denselben Anforderungen in der Marktüberwachung genügen müssen wie Medikamente. Dieser Test muss vom Markt genommen werden.

Nicht nachweisbar = nicht ansteckend – gilt das noch?
Das dürfte für die Schweizer HIV-Patienten die zentrale Frage sein. Der Vorfall in Winterthur ist ein Testversagen, nicht ein Versagen der Public Health Botschaft, oder des Swiss Statement. Bei aller Aufregung ist das die wichtigste Botschaft für alle Betroffenen und Ihre Partner.

 

David Haerry / September 2019

 

 

[1] https://www.virology.uzh.ch/de/NZR2/statements.html

[2] https://positivrat.ch/cms/medizin/therapie/368-dolutegravir-europaeische-medikamentenbehoerde-und-who-mahnen-bestimmte-frauen-im-gebaehrfaehigen-alter-zur-vorsicht.html

[3] https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/das-bag/aktuell/news/bag-bulletin.html