HIV-Stigma – auch im Gesundheitswesen in der Schweiz
Heute möchte ich Ihnen von einem Fall erzählen, den ich persönlich (Juli 2020) in einer Schweizer Klinik erlebt habe. Für mich war eine Operation mit Vollnarkose geplant. Wie üblich erhielt ich einen präoperativen Fragebogen. Darin gab es eine Spalte mit der Frage „Nehmen Sie regelmässig Medikamente ein? Und wenn ja, welche?“
Ich lebe seit langer Zeit mit HIV und meine Viruslast liegt unterhalb der Nachweisgrenze. Selbstverständlich trug ich im Fragebogen meine Antiretrovirale Therapie ein, mit der international üblichen Abkürzung ARV. Als der Anästhesist und der Chirurg den Eintrag sahen, fragten sie mich, was das ist. Ich erklärte ihnen, dass es sich um Medikamente gegen HIV-Infektionen handelt. Daraufhin baten sie mich, ihnen den Beleg zu bringen, dass meine Viruslast tatsächlich nicht nachweisbar ist.
Jetzt bitte ich Sie, sich selbst zwei Fragen zu beantworten:
- Sollten Patienten und Patientinnen mit HIV in solchen Situationen ihren HIV-Status mitteilen, auch wenn sie eine nicht nachweisbare Viruslast haben?
- Ist es diskriminierend, wenn Ärzte oder Ärztinnen nach einem Beleg für die Viruslast fragen?
Vermutlich haben die meisten von Ihnen die erste Frage mit «Ja» beantwortet: der HIV-Status sollte offengelegt werden. Und das ist die richtige Antwort. Auch als gemeinnützige Organisation, die Menschen mit HIV unterstützt, empfehlen wir in solchen Fällen, den HIV-Status offenzulegen und die ARV-Medikamente anzugeben. Schliesslich kann bei Operationen immer auch ein Risiko für Bewusstseinsverlust oder Koma bestehen. Dann müssen die Ärzte wissen, welche Medikamente den Patienten weiterhin verabreicht werden sollten. Wichtig ist die Information auch wegen möglicher Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten, die während oder nach der Operation eingesetzt werden. In vielen anderen Fällen wie beim Zahn- oder Augenarztbesuch muss aber niemand den HIV-Status offenlegen.
Kommen wir nun zur zweiten, etwas kniffligeren Frage. Viele werden geantwortet haben, dass dies kein Diskriminierungsfall ist, weil Ärzte alles über ihre zu behandelnden Personen wissen müssen – auch über deren Viruslast. Um sich und das Operationsteam zu schützen. Wir hören oft von Ärzten, dass sie erfolgreicher operieren können, weil sie sich bei einer nicht nachweisbaren Viruslast sicherer fühlen.
Aber das ist ein Irrtum. Und ein klarer Fall von Diskriminierung. Medizinische Fachpersonen, in meinem Fall ein Chirurg, müssen sich immer schützen. Denn sie müssen immer davon ausgehen, dass ihre Patienten mit irgendeinem Erreger infiziert sein können. Schliesslich könnte ich zwar HIV-positiv sein, aber – noch – nichts davon wissen. Deshalb diskriminiert die Frage nach der Viruslast Menschen, die mit HIV leben. Denn hätte ich meine Ärze nicht über meinen HIV-Status informiert, hätten sie die Operation doch hoffentlich trotzdem sicher und ohne Probleme durchgeführt.
Warum also sollten Ärzte von mir eine Viruslastbestätigung fordern? Warum soll ich beweisen müssen, dass HIV bei mir nicht nachweisbar ist? Verstehen Sie, welche Gefühle das bei Menschen mit HIV auslöst? Ich fühlte mich jedenfalls sehr ungerecht behandelt. So, als würde ich für meine Offenheit beim HIV-Status bestraft. So, als würde ich das nächste Mal lieber überhaupt keine Operation machen lassen.
Sie sehen: Es ist wichtig, sich in die Lage der Patientinnen und Patienten zu versetzen. Wenn Ärzte und Ärztinnen dafür offen bleiben und ihre Patienten besser verstehen, können wir Stigmatisierung gemeinsam bekämpfen.
Alex Schneider / Oktober 2020
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