1986 traf mich die HIV-Diagnose schockartig und ich war hilflos, wie ich damit umgehen musste. Am meisten half mir in dieser Zeit, mit Menschen zu sprechen, die dasselbe erlebten. Darüber zu sprechen ermöglichte es uns, besser zu verstehen, was mit uns geschah und mit HIV umgehen. Durch das immer wieder aktive damit Auseinandersetzen gelang es mir, den Sinn darin zu erkennen.

Aaron Antonovsky (1979) schuf – im Gegensatz zur Pathogenese, die von der Entstehung von Krankheiten lehrt – die Salutogenese, die Lehre wie Gesundheit entsteht. Er beschrieb das Kohärenzgefühl mit den Komponenten Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit. Menschen mit einem starken Kohärenzgefühl können Stressoren im Alltag besser bewältigen und sie fühlen sich gesünder. Im HIV-Bereich wird „psychosoziale Unterstützung“ international für Menschen mit HIV klar und deutlich eingefordert. Solche psychosoziale Unterstützung umfasst dieselben Aspekte, die das Kohärenzgefühl ausmachen: sie erhalten Antworten auf ihre Fragen rund um HIV, lernen damit umzugehen und zu ergründen, ob und welchen Sinn es in ihrem Leben macht.

Seit wir mit HIV leben, haben Gespräche darüber in unterschiedlichen Formen von Selbsthilfe geholfen, HIV und seine Bedeutung für uns besser zu verstehen und unser Kohärenzgefühl nachhaltig zu entwickeln. Wir sprachen über unsere Sorgen, Krankheitsbilder und Überlebensstrategien, Ärztewahl, die Vor- und Nachteile von ART und wie wir mit HIV im Alltag zurechtkommen. Zu einer Art Wunderwaffe wurde die Liebe, die sich immer wieder manifestierte, indem wir uns gegenseitig bestärkten und respektierten, unterstützten und vertrauten. Es erfüllt mich darum mit Wehmut, dass viele HIV-Selbsthilfegruppen in den vergangenen Jahren verschwunden sind. Damit sind wichtige Gefässe zur psychosozialen Unterstützung und nachhaltigen Stärkung des Kohärenzgefühls verloren gegangen.

Aktuell verfügen in der Schweiz noch die HIV-Aidsseelsorge in Zürich und der Verein PVA Genève über Räume, in denen sie regelmässig Aktivitäten von und mit Menschen mit HIV organisieren. Menschen, die sich neu mit HIV infizieren, können sich nach wie vor an die regionalen Aids-Hilfen wenden, wo sie professionell beraten und begleitet werden. Ermutigend ist, dass genau dort auch neue Angebote für Menschen mit HIV entstanden.

„Positive Frauen Schweiz“ zum Beispiel, entstanden in Kooperation von HIV-Ärztinnen und Frauen mit HIV, organisiert Selbststärkungstreffen. Diese sind thematisch ausgerichtet, zu Themen wie „Reden über HIV“, „Schönheit/Körpergefühl und HIV“, „Kommunikation mit/beim Arzt“. Grosser Wert wird auf den persönlichen Austausch gelegt, mit gegenseitiger Unterstützung und Teilen von Erfahrungen. Aktuell finden die Selbststärkungssitzungen in Zürich (2 Gruppen), Bern und Weinfelden statt, zumeist monatlich.

Neue und innovative Wege geht die Aids-Hilfe Bern mit ihrem „peer-to-peer“ Pilotprojekt: Nachdem die „alte“ Selbsthilfegruppe sich aufgelöst hatte, entstand ein neues Angebot: erfahrene, seit Jahren mit HIV lebende Personen beraten als sogenannte „peers“ Menschen mit HIV, die Fragen rund um HIV, Medikamente und Nebenwirkungen haben und individuelle Unterstützung im Alltag benötigen. Das Projekt richtet sich auch an Migrantinnen und Migranten.

Weil ich durch unsere Selbsthilfe unter Menschen mit HIV ein starkes Kohärenzgefühl entwickeln durfte, will ich dazu beitragen, dass Frauen mit HIV Möglichkeiten haben, sich mit „peers“ auszutauschen und ihr Kohärenzgefühl zu stärken.

Romy Mathys / Mai 2016

Links:
HIV-Aidsseelsorge Zürich: www.hiv-aidsseelsorge.ch
PVA Genève: www.pvageneve.ch
Positive Frauen Schweiz: www.positive-frauen-schweiz.ch
Aids-Hilfe Bern: www.ahbe.ch