Gus Cairns: Seit 40 Jahren ein «Überlebender»

Am Samstag, dem 5. Juni, dem Datum, an welches wir uns heutzutage als „HIV Long Term Survivors‘ Awareness Day“ (Tag des Bewusstseins der Langzeitüberlebenden) erinnern, jährte sich zum 40. Mal die Entdeckung der Auswirkungen von HIV bei weissen schwulen Männern in den USA, und damit auch der Beginn unseres Bewusstseins, dass die vorletzte Plage bei uns angekommen war.

Ich sage das so, um die erstaunliche Koalition der Verdammten nicht zu entehren, deren gegenseitige Unterstützung, leidenschaftlicher Protest, naturwissenschaftliche Selbsterziehung und aller Stigmatisierungen zum Trotz die Aids-Politik begründete. Und die dazu beitrugen, dass wenigstens einige die Mittel bekamen, um das erste 100% tödliche Retrovirus in der Geschichte der Menschheit zu überleben.
Ich möchte auch das unbeachtete Leben und den vergessenen Tod jener Menschen ehren, die an Orten wie Kinshasa und Rakaï starben, lange bevor die New Yorker anfingen, „es“ zu kriegen.
Aber auch, um meinen eigenen Zwiespalt und mein Unbehagen zu offenbaren, mich mit dem Etikett „HIV Long Term Survivor“ (HIV-Langzeitüberlebender) zu schmücken – obwohl ich als am 19. September 1985 diagnostizierter eindeutig einer bin.

Der Begriff impliziert irgendwie eine Tugend, eine Art von Stärke oder Strategie, welche dazu geführt hat, dass ich am Leben geblieben bin. Doch bin ich mir sehr bewusst, dass es zu 90% reines Glück war, dass ich überlebte. Es fühlt sich an, als ob es diejenigen, die nicht überlebt haben, ein wenig entehrt.

Deshalb steht auf meinem Facebook-Profil „Nicht an AIDS gestorben“ als bewusste kleine Provokation. An anderer Stelle habe ich mal gesagt: „Ich bin kein Überlebender, ich bin nur ein Nicht-Gestorbener“.

Gus Cairns

Bild: Gus Cairns

Hätte ich mich bloss sechs Monate früher mit HIV angesteckt; lebte ich vielleicht in einer anderen Stadt, geschweige denn in einem anderen Land; oder hätte ich nicht die Art von Genen gehabt, die einen eher fett als dünn machen; oder hätte ich noch schlimmere Nebenwirkungen von Medikamenten gehabt; oder wäre ich einfach kein wortgewandter, an der Universität ausgebildeter weisser Mann gewesen: Dann wäre ich 1997 gestorben, ich und meine 10 CD4-Zellen, ohne Wenn und Aber, und ich wäre jetzt nicht hier um diesen Text zu schreiben.

Ich leide auch unter einem leichten Gefühl der Unwürdigkeit, nicht zur ersten Aktivistengeneration zu gehören, welche die Antwort auf AIDS begründet haben – in Grossbritannien waren das Menschen wie Tony Whitehead, Simon Watney und viele andere noch Lebende und Gestorbene. Zuerst an einen sterbenden Seelenverwandten und dann an einen sterbenden Körper gebunden, wurde ich erst wirklich zum Aktivisten, als ich 1998 ins Leben zurückkehrte. Ihnen, wie vielen anderen, verdanke ich mein eigenes Überleben.

Und doch, und trotzdem: Mich NICHT als Überlebenden anzuerkennen, fühlt sich auch nicht richtig an. Ich habe einige Dinge getan, die mir wahrscheinlich geholfen haben zu überleben. Ich habe oft gescherzt, dass ich sieben Mal den Arzt feuern musste, bevor ich den einen fand, der mein Virus unter die Nachweisgrenze brachte. Auch die Entschlossenheit, bestimmte Dinge nicht zu tun, wie z. B. sich ausschliesslich auf Medikamente zu verlassen, zu Zeiten, als die Therapien wirklich jämmerlich waren, hat mir wahrscheinlich geholfen zu (über)leben.
Genauso wie die Entscheidung, eine gute psychische Verfassung, Freude am Leben und eine Art pantheistische Spiritualität anzustreben – ich versuchte nämlich, mir eine bessere Gesundheit
herbeizuhoffen. Nicht auf unbegründete Art und Weise oder indem ich HIV leugnete, sondern mit der Überzeugung, dass Hoffnung Gesundheit bedeutet und ihr Fehlen tödlich sein kann.

Wenn man nicht anerkennen will, dass es etwas Besonderes ist, ein Überlebender zu sein, dann hat das auch mit Schmerzen zu tun. Wenn es Weisheit gibt, dann wird sie durch traumatische Erfahrungen gewonnen.
Mir selbst wurde das kürzlich klar, als „It’s a Sin“ (britische Fernsehserie über die Zeit, als die Aids-Pandemie sichtbar wurde) bei mir eine Flut von Gefühlen freisetzte, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie in mir steckten.

Sich heute mit HIV anzustecken, mag in mancher Hinsicht schlimmer sein, da man die Scham und den Schrecken allein durchmacht, umgeben von Menschen, die sich längst daran gewöhnt haben. Aber es gibt nur wenig, das mit der schieren, surrealen, am Rande des Todes stehenden Erfahrung der frühen Aids-Jahre vergleichbar ist.

Wir Langzeitüberlebenden sind eine historische Kohorte, die „AIDS Vietnam-Veteranen“, und wie bei ihnen besteht ein Teil des Überlebens darin, sich einzugestehen, dass dies permanenten Verlust und Beschädigung bedeutet. Es gibt eine Art von grimmigem Zynismus, die mit dem Überleben angesichts der überwältigenden Wahrscheinlichkeit des Todes einhergeht, und es kann schwer sein, sich davon zu erholen, wenn die Bedrohung verschwindet.

Ich spreche nicht nur von psychologischen Narben wie eine posttraumatische Belastungsstörung. Ich spreche von der existenziellen Leere, die jemanden wie den warmherzigen, menschlichen und inspirierenden Schriftsteller Primo Levi dazu gebracht haben mag, sich viele Jahre, nachdem er den Holocaust überlebt hatte, das Leben zu nehmen. Welche Vergebung gibt es nach einer solchen Erfahrung, nicht zuletzt für sich selbst?

Ein anderer Schriftsteller, der Psychologe Bessel van der Kolk, erzählt in seinem Buch „The Body Keeps the Score“, wie die Vietnam-Veteranen, mit denen er arbeitete, an ihrem Trauma festhielten. Ja, sie wollten ihre Erlebnisse in quälenden Details nachbesprechen. Aber es schien nicht zu helfen. Sie wollten vergessen, aber gleichzeitig wollten sie auch nicht vergessen.
Das liegt daran, dass es nichts gibt, nichts auf dieser Welt, das einem mehr das Gefühl gibt, am Leben zu sein, oder dass jede Sekunde wertvoll und voller Bedeutung ist, als den Kugeln auszuweichen, während deine Kumpels um dich herum tot umfallen.

Mir wurde das, was wahrscheinlich das produktivste Jahrzehnt meines Lebens hätte sein sollen – 35-45 – aus meinem Lebenslauf gestrichen. Ich musste mich neu erfinden, als ich aufhörte zu sterben. Und das war schwer, sauschwer. Ich hatte das Gefühl, dass die Scharfschützen immer noch hinter den Bäumen warteten.

Mein Leben wäre ganz anders und möglicherweise in mancher Hinsicht besser verlaufen, wenn es Aids nicht gegeben hätte. Ich feiere die Tatsache, dass diese Erfahrung für Menschen, bei denen in den letzten zwei Jahrzehnten eine HIV-Infektion diagnostiziert wurde, wahrscheinlich nicht mehr vorkommen wird. Das ist wunderbar. Aber das Überleben hat, so wunderbar es auch sein mag, seinen Preis.

Daher bin ich nicht überrascht, wenn viele von uns, wie die Vietnam-Veteranen, das Gefühl haben, dass wir der Geschichte und unseren jüngeren Kameraden etwas zu sagen haben. Nicht zuletzt: NIE WIEDER.

Original erschienen bei Aidsmap am 8. Juni 2021, mit freundlicher Genehmigung des Autoren
Bearbeitet von S. Schwarze und D. Haerry

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