Frauen und HIV – Interview mit Anna Hachfeld

Anna Hachfeld ist als Allgemeinmedizinerin und Infektiologin in der Gemeinschaftspraxis Zähringer-Ahornweg in Bern und als Privatdozentin (PD) an der Medizinischen Fakultät der Uni Bern tätig. Bis im Dezember 2024 arbeitete sie als Oberärztin in der Klinik für Infektiologie im Inselspital Bern und als ärztliche Leiterin im Checkpoint Bern. Sie leitet die WAVE Menopause Working Group der European Aids Clinical Society EACS und ist Vorstandsmitglied der Aidshilfe Bern. Ihr Forschungsschwerpunkt ist HIV und Frauen.

Claudia Langenegger: Anna Hachfeld, was weiss man über Frauen mit HIV in der Schweiz?

Anna Hachfeld: Daten dazu liefern uns das BAG und die Schweizerische Kohortenstudie (SHCS): Ende 2024 lebten etwa 17’600 Menschen in der Schweiz mit HIV, ein Viertel davon ist weiblich – also 4’400 Frauen. Über die Hälfte von ihnen ist über 50 Jahre alt und etwa ein Drittel befindet sich in der Menopausentransition respektive in der Perimenopause.

Funktioniert die antiretrovirale Therapie (ART) ebenso gut wie bei Männern?

Ja, die bei uns verfügbaren HIV-Medikamente wirken auch bei Frauen hervorragend. Lange Zeit wurden bei den Zulassungsstudien allerdings praktisch nur junge Männer eingeschlossen. Der Anteil der Frauen und älteren Personen ist auch heute noch oft klein. Die Dosierung ist allerdings für Männer und Frauen bei allen Medikamenten gleich.

Wäre eine geringere Dosierung für Frauen nicht ausreichend? Sie sind ja im Durchschnitt kleiner, leichter und ihre Hormone und ihr Stoffwechsel ist anders als bei Männern.

Das ist eine sehr wichtige Frage. Aus Studien wissen wir, dass Frauen bei einigen Substanzen höhere Medikamentenspiegel im Blut haben und dass bestimmte Nebenwirkungen bei Frauen häufiger auftreten. Bei der Entwicklung neuer HIV-Medikamente und der Dosisfindung steht jedoch die Wirksamkeit an erster Stelle – dass nämlich die Viruslast supprimiert ist. Die Frage nach Nebenwirkungen kommt erst danach. Auch individualisierten Dosierungen – beispielsweise abhängig von Geschlecht oder Alter – wurden in den letzten Jahren nur wenig Beachtung geschenkt.

Gibt es weitere frauenspezifische Aspekte bei der HIV-Therapie?

Lange Jahre enthielten die meisten Kombinationstherapien den Wirkstoff Tenofovir-Disoproxil (TDF), der nierentoxisch sein kann und das Risiko für Osteoporose erhöht. Frauen betrifft dies stärker, denn mit der Menopause lässt die Produktion von Östrogen nach und die Schutzfunktion dieses Hormons fällt weg: Die Knochendichte verringert sich und das kardiovaskuläre Risiko steigt. Viele der neueren Kombinationstherapien enthalten nun den Wirkstoff Tenofovir-Alafenamid (TAF), eine Weiterentwicklung von TDF. Für die gleiche Wirksamkeit braucht es eine viel kleinere Dosis. Knochen und Nieren werden weniger geschädigt. TAF kann jedoch die Cholesterinwerte erhöhen, zu einer Gewichtszunahme führen und so das kardiovaskuläre Risiko der Frauen zusätzlich erhöhen.

Keine schönen Aussichten für Frauen – in der Menopause haben sie oft wegen hormoneller Veränderungen mit unerwünschten Kilos zu kämpfen. Was weiss man über Menopause und die antiretroviralen Therapien (ART)?

Leider gibt es noch zu wenige Studien dazu. Es ist oft nicht einfach, die Symptome auseinanderzuhalten: Schlafstörungen, Gewichtszunahme oder Verdauungsprobleme können sowohl Beschwerden der Menopause als auch Nebenwirkungen der ART-Therapie sein. Wenn eine Frau um die 50 plötzlich an Nachtschweiss leidet, Gelenkschmerzen und eine veränderte Verdauung hat, kann das Ängste auslösen – dass die HIV-Infektion nicht gut kontrolliert ist oder es sich um Nebenwirkungen des Medikaments handelt.

Bei Frauen sind zudem Schwangerschaft, Geburt und Stillen ein Thema. Was ist der aktuelle Stand zum Übertragungsrisiko, was sind die Empfehlungen?

Wenn die Viruslast während der Schwangerschaft und vor allem zum Zeitpunkt der Geburt supprimiert ist, dann ist das Übertragungsrisiko minim und die Frauen können vaginal entbinden und auch stillen. Das HIV-Übertragungsrisiko mit Therapie liegt bei schätzungsweise 0,3 Prozent – diese Zahl gilt mit der Annahme, dass es bei der Mutter zwischendurch viräme Phasen gibt (Phasen, in denen sich die Viren im Blut weiter verbreiten).

Sind die Rückstände der Medikamente in der Muttermilch für Babys nicht schädlich?

HIV-Medikamente lassen sich zwar in der Brustmilch nachweisen. Allerdings ist die Konzentration der Medikamente gering. Bisher wurde in keiner Studie eine schädliche Wirkung für die gestillten Babys gezeigt. In der Subsahara gilt schon lange: Mütter mit HIV können stillen, insofern sie eine ART nehmen. Denn die Säuglingssterblichkeit ist bei Flaschenernährung höher – wegen verunreinigtem Trinkwasser und dem Mangel an Milchpulver.

Bildnachweis Claudia Langenegger

Was ist, wenn das Virus nicht supprimiert ist?

Das HIV-Übertragungsrisiko von Mutter auf Kind ohne Therapie, mit vaginaler Geburt und Stillen liegt zwischen 20 und 30 Prozent. Aus diesem Grunde wird bei Müttern, welche zum Zeitpunkt der Geburt nicht supprimiert sind, ein Kaiserschnitt gemacht. Das Kind erhält HIV-Medikamente als HIV-Postexpositionsprophylaxe und wird nicht gestillt.

Was empfiehlt die Schweiz?

Die Schweiz ist als erstes Industrieland dazu übergegangen, bei Frauen mit HIV und einer anhaltend unterdrückten Viruslast die vaginale Entbindung zu empfehlen und das Stillen zu ermöglichen, wenn die Frauen dies wünschen. Wenn eine Mutter stillen wollte, musste sie es bisher vor Ihrer Ärztin, ihrem Arzt und Hebammen verheimlichen. Umgekehrt ist beispielsweise in der afrikanischen Gemeinschaft die Angst vor einem unfreiwilligen Outing gross: Wer nicht stillt, gilt als HIV-positiv.

Schwangerschaft und Stillen sind also gar nicht problematisch für Frauen mit HIV.

Wir müssen Frauen und ihre Partner vor allem auch gut informieren: Bis vor kurzem wussten viele Frauen nicht, dass sie trotz HIV Kinder kriegen können und vielen ist bis heute nicht klar, dass es dank Therapie praktisch kein Übertragungsrisiko gibt. Ich erlebe immer wieder Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch, die aus diesen Gründen erst sehr spät mit der Familienplanung angefangen haben.

Wie sind die Empfehlungen in anderen Industrieländern?

Derzeit ist einiges in Gange, andere Industrieländer ziehen diesbezüglich nach: Stillen soll auch hier ermöglicht werden. Es ist wichtig, das Wohl der Frauen ins Zentrum zu stellen: Wer stillen will, soll das ohne schlechtes Gewissen und ohne Ängste tun können. Dies setzt jedoch informierte Frauen und eine engmaschige und gute Betreuung voraus, denn schliesslich darf es zu keiner HIV-Übertragung aufs Kind kommen.

Gibt es bei PreP für Frauen und Männer nach wie vor Unterschiede bei der Einnahme?

Bei Frauen dauert es länger, bis sie den schützenden Medikamentenspiegel in der Vaginalschleimhaut aufgebaut haben. Daher müssen sie mit der Einnahme der Medikamente sieben Tage vor dem Sexualkontakt beginnen und können die PrEP nicht intermittierend («on demand») nehmen wie die Männer.

Was hat sich in den vergangenen Jahren in der HIV-Forschung bezüglich Frauen verändert?

Heute werden auch Frauen inklusive Transfrauen in Medikamentenstudien involviert – das gilt mittlerweile als Qualitätsmerkmal. Allerdings sind schwangere Frauen oder solche, die es werden wollen, weiterhin ausgeschlossen und es dauert immer noch lange, bis wir nach der Einführung einer neuen Substanz Daten zur Sicherheit in der Schwangerschaft erhalten.

Ein positives Beispiel ist die Purpose Studie, in welcher Lenacapavir als PrEP-Medikament getestet wurde. Da waren Frauen gut vertreten und wurden auch im Falle einer Schwangerschaft nicht ausgeschlossen. Es ist also einiges passiert – aber es besteht noch immer Verbesserungsbedarf.

 

Danke für das Gespräch.

Claudia Langenegger / August 2025

Daten und Fakten

Quelle: Stigma-Studie Schweiz

Frauen, Heterosexuelle und People of Colour leiden am stärksten unter Stigmatisierung und Selbststigma:

  • 91 % der heterosexuellen Frauen sorgen sich sehr um die Geheimhaltung ihres Serostatus
  • 60 % haben Angst vor Ausgrenzung, wenn sie sich outen

In der Menopause sind gesundheitliche Probleme bei Frauen mit HIV häufig:

  • 27 Prozent sind in psychiatrischer Behandlung oder leiden an Depressionen
  • 41 Prozent sind übergewichtig
  • 8 Prozent sind untergewichtig
  • 45 Prozent rauchen regelmässig
  • 18 Prozent haben einen erhöhten Alkoholkonsum

Weiterführende Links:

Schweizerische HIV-Kohortenstudie – Swiss HIV Cohort Study (SHCS)
https://www.shcs.ch

Studie Frauen und Menopause 2022: Women with HIV transitioning through menopause: Insights from the Swiss HIV Cohort Study (SHCS)
https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1111/hiv.13255

Stigma-Studie: Prevalence of HIV-related stigma among people with HIV in Switzerland: addressing the elephant in the room
https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC11424058/#abstract1

Erste Stillstudie der Schweiz:
https://www.ejog.org/article/S0301-2115(23)00058-1/fulltext

Studie zum Stillen bei HIV-positiven Müttern:
https://tghncollections.pubpub.org/pub/19-humanes-immundefizienzvirus-hiv/release/1

 

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