EACS Warschau – was ist neu in den europäischen Therapierichtlinien?

Jedes Jahr im Herbst ist es wieder soweit: Die europäische Fachgesellschaft EACS aktualisiert ihre europäischen Therapierichtlinien. Besonders beliebt sind diese Empfehlungen, weil sie sehr praxis- und damit patientenorientiert sind. Fünf Patientenvertreter der European AIDS Treatment Group EATG stellen sicher, dass die Stimme der Betroffenen nicht überhört wird.

Die neue Ausgabe 12.0 erscheint zu einer Zeit, wo die klinische Behandlung von HIV-Infizierten den Druck der COVID-19-Pandemie überwunden hat. Das Coronavirus bleibt zwar eine Herausforderung. Aber Diagnose, Prävention und Behandlung von COVID-19 ist bei Menschen mit HIV, die gegen SARS-CoV-2 geimpft sind, sehr ähnlich wie in der Allgemeinbevölkerung. Menschen mit HIV-bedingter schwerer Immunschwäche haben weiterhin ein höheres Risiko für schlechte gesundheitliche Ergebnisse.

Die neue Version der Leitlinien bezieht sich aber nochmals auf eine neue Epidemie: das Affenpockenvirus. Wieder einmal waren viele Menschen mit HIV und solche, die am stärksten gefährdet sind, sich mit HIV zu infizieren, betroffen. Das Affenpockenvirus kann bei Menschen mit HIV und schwerer Immunschwäche eine sehr ernste Erkrankung darstellen. Das gilt besonders für Menschen, die keine antiretrovirale Therapie erhalten. Deshalb betrachten die EACS-Autoren das Virus als opportunistische Infektion bei Menschen mit HIV. Ein neuer Abschnitt im Kapitel über opportunistische Infektionen behandelt die wichtigsten Aspekte in diesem Sinne.

Warum sollen Menschen mit HIV etwas über diese Richtlinien wissen?

Wer in einer Universitätsklinik oder einem spezialisierten Zentrum in Behandlung ist, kann sich entspannen. Hat der behandelnde Arzt nur eine Handvoll andere Patienten, lohnt es sich, um die Empfehlungen zu wissen. Ab und zu eine Frage nach den EACS Richtlinien zu stellen ist hier sinnvoll.

Was ist neu in der 12. Version der Richtlinien? Wir präsentieren eine Auswahl der aus unserer Sicht wichtigsten Änderungen.

Kapitel HIV-Therapie

  1. Neue Prioritäten beim Therapiebeginn: Es sollte ein Integrasehemmer der 2. Generation mit 2 NRTI verwendet werden. Geboosterte Proteasehemmer sind eine mögliche Alternative.
  2. Menschen, die spät diagnostiziert werden und deren CD4 unter 200 gesunken sind, sollen gleich eine Therapie beginnen.
  3. Primoinfektion[1]: Empfohlen wird eine Therapie mit drei Substanzen. Von Therapien mit zwei Substanzen wird abgeraten.
  4. Therapieumstellung: Menschen mit erfolgreicher Therapie wird auch die Depotformulierung Cabotegravir & Rilpivirin empfohlen. Der Abschnitt, welcher Therapien mit zwei Substanzen nur für Studien empfiehlt, wurde gelöscht.
  5. Therapieversagen: Mit Lenacapravir steht für diese Fälle eine neue Substanz zur Verfügung. Eine neue Therapie soll innert 6 Monaten oder schneller erfolgreich sein.
  6. Schwangerschaft: Vom Stillen wird generell abgeraten.[2]
  7. PEP: Bei passivem Oralsex mit Ejakulation und ohne PrEP kann eine PEP diskutiert werden. Sie wird aber nicht mehr generell empfohlen.
  8. PrEP: Vor Beginn einer PrEP soll ein HIV-Test der 4. Generation gemacht werden. Alle PrEP-Nutzer sollen optimal geimpft sein. Doxycyclin soll in bestimmten Fällen vorgeschlagen werden.[3] Zusätzliche Substanzen können für eine PrEP genutzt werden – Tenofovir Alafenamid & Emtricitabin oder Cabotegravir & Rilpivirin als Depotformulierung.

 

Kapitel Wechselwirkungen

  1. Verbesserte Empfehlungen rund um die Depotformulierung Cabotegravir & Rilpivirin, besonders wenn Termine zur Auffrischung verpasst werden.
  2. Der neue Kapsid-Hemmer Lenacapravir, alle 6 Monate unter der Haut verabreicht, wird in den Wechselwirkungen berücksichtigt.
  3. Alle Tabellen mit Wechselwirkungen wurden aktualisiert.

 

Kapitel Begleiterkrankungen

  1. Vom Patienten erfasste Ergebnismessungen[4]: neuer Abschnitt
  2. Alkohol: neuer Abschnitt. Eine unbehandelte Alkoholsucht hat negative Folgen für den Erfolg der HIV-Therapie
  3. Aktualisierte Empfehlungen für den Umgang mit kognitiven Symptomen und Symptomen des zentralen Nervensystems bei Menschen mit HIV
  4. Sexuelle und reproduktive Gesundheit: neue Empfehlungen
  5. Krebsvorsorge und Analkrebs: neue Empfehlungen für die Früherkennung

 

Kapitel Hepatitis-Koinfizierte

  1. Empfehlungen zur Leberkrebsvorsorge aktualisiert
  2. Hepatitis-B-Impfung: Wenn möglich Verwendung der Impfung Heplisav B

 

Kapitel Opportunistische Infektionen

  1. Affenpocken: Neuer Abschnitt
  2. Covid-19: Grössere Änderungen aufgrund neuer Erkenntnisse

 

 

[1] Eine Primoinfektion ist eine ganz frische HIV-Infektion mit besonders hoher Viruslast.

[2] In der Schweiz setzen wir die Prioritäten anders. Wir empfehlen das Thema zu diskutieren und gemeinsam zu entscheiden.

[3] Dazu bringen wir in einen ausführlichen Bericht in der nächsten Ausgabe.

[4] Fachbegriff Patient reported outcome measures, PROMs

Weitere Themen