Bei Abbruch der START-Studie im Mai 2015 wurde es angekündigt – jetzt ist es soweit: Die WHO will die sofortige HIV-Therapie für alle Menschen mit HIV und empfiehlt gleichzeitig den Einsatz der Prä-Expositionsprophylaxe für Menschen, die sich anders nicht genügend vor HIV schützen können. Die WHO schätzt, dass dank der neuen Empfehlungen in den nächsten 15 Jahren 21 Millionen Todesfälle und 28 Millionen Neuansteckungen vermieden werden können.  

Am  30. September veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation WHO die bereits angekündigten neuen Therapierichtlinien. Der vorzeitige Abbruch der START-Studie im Mai hatte die bisherigen Empfehlungen, die Therapie spätestens bei 350 CD4-Zellen einzuleiten, ethisch unhaltbar gemacht. Gottfried Hirnschall, Direktor der HIV/AIDS Abteilung bei der WHO meinte denn auch: „Diese neuen Empfehlungen haben enorme Auswirkungen auf das menschliche Leben. Eine globale Zusammenarbeit ist nötig, um alle Länder bei der Einführung und Umsetzung der neuen Empfehlungen zu unterstützen.“

Eigentlich war die Publikation der neuen Richtlinien erst später gegen Jahresende erwartet worden. Die hohen Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit haben die WHO aber veranlasst, die Veröffentlichung zu beschleunigen. Die neuen Richtlinien sagen ganz einfach: „Die antiretrovirale Therapie soll bei Erwachsenen Menschen mit HIV sofort eingeleitet werden.“ Dieselbe Empfehlung gilt auch für Kleinkinder, Kinder, Jugendliche und schwangere Frauen. Die Therapie soll für Menschen mit geschwächtem Immunsystem oder Menschen, die bereits Krankheitszeichen aufweisen, prioritär eingeleitet werden.

Die European AIDS Clinical Society publiziert die neuen europäischen Therapierichtlinien an ihrem Kongress, der diese Woche in Barcelona beginnt. Soviel dürfen wir verraten: Auch die EACS wird sich unmissverständlich für die sofortige Therapie aller Menschen mit HIV aussprechen.

An der IAS Konferenz im Juli 2015 bestätigten sich bereits vorzeitig veröffentlichte Daten aus der afrikanischen HPTN 052-Studie mit heterosexuellen sero-diskordanten Paaren[1]. Das Risiko, in einer Paarbeziehung angesteckt zu werden, reduziert sich dank Therapie auf fast Null, nämlich um 93%. Die einzige dokumentierte Ansteckung erfolgte kurz nach Therapiebeginn, als die Viruslast des Partners mit HIV noch nicht unterdrückt war..

 

PrEP für alle Menschen mit hohem Ansteckungsrisiko

Die neuen WHO-Richtlinien empfehlen auch die Prä-Expositionsprophylaxe: „Orale PrEP (enthaltend tenofovir disoproxil fumarate) sollte als zusätzliche Präventionsmethode für Menschen mit hohem HIV-Ansteckungsrisiko als Bestandteil einer kombinierten Präventionsstrategie empfohlen werden.“

Die WHO äussert sich nicht weiter zu einer spezifischen Therapie. Truvada des Herstellers Gilead (enthält Tenofovir und Emtricitabine) ist das am Besten geprüfte Produkt und das einzige von der amerikanischen Behörde FDA für die PrEP zugelassene Präparat. Generische Versionen von Tenofovir und Emtricitabine sowie der noch älteren Substanz Lamivudine sind in vielen Ländern auf dem Markt. In Europa dürfte der Patentschutz von Truvada 2018 auslaufen.

Die europäischen Zulassungsbehörden EMA sowie die Swissmedic haben sich bisher zu diesem Thema nicht geäussert. Diese können aber eine Zulassung auch nicht einfach einseitig verfügen wie das FDA in den Vereinigten Staaten. In Europa und der Schweiz muss die Herstellerfirma einen Antrag auf Zulassung stellen. Die kürzlich vorzeitig abgebrochenen Studien PROUD und IPERGAY (LINK) machen jetzt aber Druck, dies rasch nachzuholen.

Die WHO hat bereits 2014 empfohlen, dass Männern, die Sex mit Männern haben und die Mühe mit Safer Sex bekunden, eine PrEP empfohlen werden sollte. Die neuen WHO-Empfehlungen dehnen dies nun auf alle Gruppen mit erhöhtem Risiko aus.

Wir hoffen sehr, dass sich auch die Schweiz bald durchringt, die PrEP als eine mögliche und wirksame Präventionsmassnahme zu empfehlen. Wir gehen davon aus, dass sich auch die EACS diese Woche zum Thema äussern wird – PrEP ist auf jeden Fall eines der ganz heissen Themen in Barcelona.

David Haerry / Oktober 2015


[1] Sero-diskordant: Ein Partner ist HIV-positiv, der andere HIV-negativ