Jahrelang habe ich meinen Nächsten nichts von meiner Infektion erzählt. Zu gross waren meine Ängste. Als ich mich ihnen stellte, merkte ich, dass sie übertrieben waren. Vielen geht es ähnlich. Früher oder später überwinden aber die meisten ihre Ängste.

Der englische Begriff Disclosure lässt sich im Deutschen nur umständlich übersetzen mit «seine HIV-Infektion enthüllen». Wir sprechen vom Coming-out oder «sagen jemandem, dass ich HIV-positiv bin». Für Menschen mit einer HIV-Diagnose sind Fragen rund um das Coming-Out zentral: wem sag ich’s, wie sag ich’s, wann sag ich’s? Soll ich’s überhaupt sagen? Die Entscheidung, mit Bezugspersonen über unsere HIV-Infektion zu sprechen, wirkt sich nachhaltig auf alle Lebensbereiche aus.

Beratung
Gerade bei einer solch schwierigen Situation wäre ein Gespräch mit einer Vertrauensperson hilfreich – und genau das ist die Krux: es geht ja um die Frage, ob ich eben dieser Person meine HIV-Diagnose anvertrauen kann und will. Für dieses Dilemma gibt es keine einfachen Lösungen, doch es gibt in der Schweiz regionale Aids-Hilfen, die Menschen, die mit dieser Entscheidung ringen, Beratung anbieten. Beratung kann mich dabei unterstützen, mir die Konsequenzen meiner Entscheidung bewusst zu machen, sie abzuwägen und einzuschätzen, ob, wem, wie und wann ich es mitteilen will. Sie kann mir meine rechtlichen Möglichkeiten und weitere Aspekte aufzeigen.

Die Angst wird zum Schattenmonster
Beratung kann mir jedoch nicht den Schritt abnehmen, den ich letztendlich selber tun muss: Mich meiner Angst vor Diskriminierung wegen HIV zu stellen. Die Chinesen bezeichnen im Tai Chi eine Position mit: «den Tiger bei den Ohren packen». Das ist dieser entscheidende Moment, in dem die Prinzessin ihrer Angst Aug in Aug gegenübertritt und bereit ist, den Frosch zu küssen. Dieser Moment, in dem ich meinen ganzen Mut mobilisiere und mich der Angst stelle. Diese Angst vor Diskriminierung war für mich so ein Monster, das meine Phantasie erschaffen hatte. Und gerade weil ich dieses Monster selber erschaffen habe, konnte nur ich ihm entgegentreten und es besiegen. Leider belegen Diskriminierungsmeldungen der Aids-Hilfe Schweiz, dass auch 2012 Menschen wegen HIV in der Schweiz diskriminiert werden. Die Angst davor ist jedoch ein psychisches Schattengewächs, das im Geheimen spriesst und leicht Dimensionen annimmt, die mein Wohlbefinden und meine psychische Gesundheit beeinträchtigen können.

Verwandlung
Nach meiner HIV-Diagnose war es meine grösste Angst, dass irgendjemand davon erfahren und es weitersagen könnte. Diese Angst hing wie ein dunkler Schatten über mir und raubte mir zunehmend Kraft, Energie und Lebensfreude. Ich war absolut überzeugt davon, zu wissen, wie beispielsweise mein Vater auf meine HIV-Diagnose regieren würde. Dass er nicht so, sondern ganz anders reagierte, war ein positiver Schock, der mein Leben verändert hat. Mehr als sechs Jahre habe ich gebraucht, bis ich den Mut fand, es ihm zu sagen. Als er mich in die Arme schloss mit den Worten: «Du bist auch mit HIV meine Tochter!» brach für mich eine Welt der Angst vor Diskriminierung zusammen. Ein Schlüsselerlebnis für mich war, dass sich die Angst in dem Moment, als ich sie konfrontierte, nicht einfach nur verschwand. Sie verwandelte sich in etwas Kraftvolles, Positives, Bleibendes – in eine Art Potenzial. Mein Vater umarmte mich und wir haben seither eine bessere Beziehung als je zuvor.

Befreiung aus der Angst
Mehr noch: diese positive Erfahrung hat mich ermutigt, weitere Schritte gegen meine – so hatte ich erkannt – der Realität nicht wirklich angemessene Angst zu unternehmen. In der Folge sprach ich mit meinem Chef und mit Freundinnen über meine HIV-Infektion. Für mich ging es um die zentrale Frage: will ich dieser Angst weiterhin erlauben, mein Leben zu überschatten und zu bestimmen? Ich hatte das Glück, dass eine Therapeutin mich in diesem Prozess begleitet hat. Meine Angst hat mir den Weg gewiesen. Von meinen Ängsten kann ich lernen, sie zeigen mir auf, was es noch zu tun gibt. Die Angst ist dort am grössten, wo ich am meisten zu verlieren habe: bei den Menschen, die ich liebe. Mich meinen Ängsten zu stellen, hat mich für das Leben stark gemacht und mir aufgezeigt, wie ich mit Ängsten umgehen kann.

Studie über Frauen und die Zeitdauer bis zu ihrem Coming-out
Meinem Partner habe ich die HIV-Diagnose sofort mitgeteilt, um es weiteren Personen zu sagen, habe ich sechs oder teilweise mehr Jahre gebraucht. Eine amerikanische Studie hat nun untersucht, wie lange 125 Frauen brauchten, um ihren Partnern, Familien und Freunden ihre HIV-Diagnose zu offenbaren. Die Studienresultate bestätigen meine Einschätzung: Frauen mit einer HIV-Diagnose sagen es zuallererst ihren Lebenspartnern und erst später Familienmitgliedern oder Freunden. Diese Resultate widersprechen Studien aus den 90er Jahren, nach denen Frauen eher mit Freunden als mit Familienangehörigen über ihre HIV-Infektion sprachen. Die Autorinnen interpretieren das als Hinweis dafür, dass sich bei Frauen die Art ihrer Disclosure verändert hat. Ich bin mir sicher, dass die antiretrovirale Therapie für diese Veränderung im Disclosure-Verhalten eine wichtige Rolle spielt. Seit 1996 hat sich die medizinische Behandlung der HIV-Infektion kontinuierlich verbessert und heute muss HIV bei rechtzeitiger Diagnose nicht mehr zu Aids führen.

Zeitraum von HIV-Diagnose bis Coming-out

Familie

Kinder

Freunde

Partner*

1 Monat nach HIV-Diagnose

46 %

21 %

30 %

45 %

12 Monate nach HIV-Diagnose

60 %

31 %

52 %

71 %

24 Monate nach HIV-Diagnose

68 %

43 %

61 %

75 %

*) 5 der 173 genannten Partner (inkl. ehemalige und Liebhaber) sind weiblich Zu denken gibt angesichts der heutigen Situation, dass nach zwei Jahren noch mehr als 30 % der Frauen weder mit Familienangehörigen noch mit Freunden über HIV zu sprechen scheinen. Es dauerte immerhin 12 Jahre, bis mehr als 90 % der Studienteilnehmerinnen mit mind. einem Familienmitglied über ihre HIV-Diagnose gesprochen haben. Nach 13 Jahren (!) haben sich 97 % ihren Partnern gegenüber geoutet, und nur gerade 3 % erklärten, dies zu keinem Zeitpunkt keinem Partner gegenüber getan zu haben. Dies macht deutlich, dass einige Frauen viel Zeit und teilweise auch Jahre brauchten, um sich ihren Ängsten zu stellen. Aber es macht auch Mut: wir lassen es auf die Dauer nicht zu, dass Angst unser Leben bestimmt. Wir packen den Tiger bei den Ohren.

Text: Romy Mathys  

 

 

© Aids-Hilfe Schweiz, Newsletter “POSITIV”  
Quelle: Serovich Juliana Maria, Craft Shonda M., Reed Sandra J. Women’s HIV Disclosure to Family and Friends. AIDS Patient Care and STDs, Volume 26, Number 4, 2012.