Bericht von der (Virtual) CROI 2020

Findet sie statt, oder wird die jährliche Retrovirenkonferenz in den USA abgesagt? Die allermeisten Europäer, vor allem alle Kliniker konnten sowieso nicht reisen; sie wurden zuhause gebraucht. Alle Schweizer Universitätskliniken hatten ein Reiseverbot eingeführt. Unsere Reporter wurden bei der Landung in Boston von der Absage in letzter Minute überrascht. Einige Workshops waren bereits im Gange und mussten unterbrochen werden.

Offensichtlich konnten die Europäer die Amerikaner nicht überzeugen – man war sich dort der Geschwindigkeit der sich ausbreitenden Coronaviruspandemie offensichtlich nicht bewusst. Noch am 3. März entschieden die Verantwortlichen, die Konferenz abzuhalten, trotz der Absage vieler Delegierter und Präsentatoren. Nur drei Tage später zogen die Verantwortlichen die Reissleine trotzdem. Und so berichten wir jetzt von der virtuell übertragenen Konferenz.

Coronavirus
Das Thema liess sich auch an der Retrovirenkonferenz nicht vermeiden (das HI-Virus ist ein Retrovirus). Von besonderem Interesse war der Vortrag von John Brooks – er befasste sich mit der SARS-CoV-2 Verbreitung ausserhalb von China und den speziellen Risikogruppen1. Zur spezifischen Gefährdung von Menschen mit HIV durch das Virus gab es keine Daten (und es gibt sie noch heute nicht). Brooks meinte, ein erhöhtes Risiko erwarte er sowohl bei den älteren HIV-Patienten, sowie bei Leuten mit tiefen CD4-Werten oder ohne Therapie.
Hinweis: Gefährdung spezifischer Gruppen: siehe Empfehlungen der HIV-Kohortenstudie und Kurzmeldungen

Empfehlungen für Menschen mit HIV

  • Versorgung mit Medikamenten sicherstellen – Reserve für mindestens 1 Monat halten. Das gilt für alle Medikamente, inklusive Generika
  • Impfschutz erhalten – Grippe, Pneumokokken
  • Für den Quarantänefall: klinische Betreuung planen. Das heisst: Telemedizin oder Webportale (Hinweis: für die Schweizer Patienten wohl nicht nötig)
  • Soziales Kontaktnetz organisieren und sicherstellen – das ist wichtig für die psychische Gesundheit, man kann mit dem Handy auch telefonieren

Cure-Forschung
Das traditionelle Community HIV Cure Symposium wurde sehr kurzfristig ebenfalls virtuell abgehalten2. Es waren dieses Mal zwei Forscher, welche über den Stand ihrer Arbeit informierten. Dan Barouch von der Harvard Medical School zeigte Daten aus drei Studienschienen mit Rhesusaffen

  • Vesatolimod, ein Immunstimulans, welches infizierte Zellen aus Verstecken im Reservoir spülen soll
  • Breitneutralisierende Anti-HIV-Antikörper, welche diese aus dem Versteck gespülten Zellen angreifen und
  • Eine therapeutische Impfung, welche dem Immunsystem hilft, die Virusreplikation in noch infizierten Zellen im Schach zu halten.

Die Resultate aus den Tierstudien sind ermutigend: Vesatolimod allein schützt 5% der Tiere von einem viralen Rebound, Vesatolimod plus Impfung schützt 55%, die Kombination Vesatolimod plus breitneutralisierende Antikörper 90% – falls sich diese Resultate im Menschen wiederholen lassen.

An der Konferenz selber zeigte Devi Sengupta von Gilead erste Resultate von Vesatolimod solo im Menschen – es wurden sowohl eine Sicherheits- und eine virale Reboundstudie durchgeführt. Die Wirkung von Vesatolimod bei den Patienten war sehr unterschiedlich – bei vier Patienten war die Viruslast sechs Wochen lang nicht nachweisbar, und bei einem Patienten dauerte es 31 Wochen, bis die Viruslast über 200 Kopien war. Dieser Patient verzichtete anschliessend für die ganze Studiendauer auf eine antiretrovirale Therapie; seine Viruslast war stabil zwischen 164 und 215 Kopien.

Jim Riley von der Universität in Pennsylvania hat ein Gentherapieprojekt am Laufen: Umgebaute Zellen werden gegen HIV immun gemacht und dazu stimuliert, eigene virus-blockierende Verbindungen herzustellen und sogar völlig „umgestaltete“ T-Zellen – sogenannte chimäre Antigenrezeptor-Zellen (CAR) – einzuführen, die eine effizientere Immunreaktion gegen HIV erzeugen als die in der Natur vorkommende.

Diese genetischen Ansätze interessieren uns besonders, weil die beiden bisher als geheilt erklärten Patienten durch eine genetische Manipulation geheilt wurden. Beide erhielten eine Knochenmarktransplantation mit Zellen ohne CCR5-Rezeptoren – die vom HI-Virus genutzte Eintrittspforte. Das Knochenmark kam von Spendern, die diesen fehlenden Rezeptor vererbt bekamen; man kann solche Zellen aber auch herstellen. In der Krebsforschung wird die Technik bereits breit eingesetzt, in der HIV-Forschung steckt sie in den Kinderschuhen. Der Grund ist einfach: Gegen HIV haben wir wirksame Therapien, bei Krebs fehlen diese. Studien im Krebsbereich können darum riskanter sein. Im Grossen und Ganzen sind Riley’s Resultate bisher nicht berauschend, doch wir sind am Anfang und die Suche geht weiter.

Der Londoner Patient ist definitiv geheilt und outet sich
An der CROI 2019 war er die Sensation, ein Jahr später wird seine Heilung definitiv bestätigt: Seit nunmehr zweieinhalb Jahren lebt Adam Castillejo ohne antiretrovirale Therapie und ohne dass sich die HI-Viren zurückmelden3. Der New York Times gab er am 9. März ein Interview4. Der Times sagte er, er sei in einer einzigartigen Situation, die ihn bescheiden mache, und er möchte ein Botschafter der Hoffnung sein. Er wollte seine Identität erst nicht offenlegen, hat sich dann aber anders besonnen und sich gut darauf vorbereitet. Castillejo ist ein heute 40-jähriger Venezolaner, der in London lebt. Er erhielt seine HIV-Diagnose im Jahr 2003.

Der als «Berliner Patient» bekannte Timothy Brown lebt bereits seit 13 Jahren ohne HIV-Therapie. Bei Castillejo wurde im Jahr 2011 ein Hodgkin Lymphom diagnostiziert. Nach jahrelanger erfolgloser Therapie erhielt er im Jahr 2016 eine Knochenmarktransplantation. Dabei erhielt er Spenderzellen mit derselben Mutation wie damals Brown. Seine begleitende Chemotherapie war aber weniger aggressiv und er musste seine antiretrovirale Therapie nicht abbrechen. Die Transplantation glückte, das Lymphom wurde geheilt. Spätere Tests zeigten, dass Castillejos CD4-Zellen mehrheitlich keine CCR5-Rezeptoren mehr hatten. Wiederholte Tests fanden keine funktionierenden HI-Viren mehr in Castillejos Blut und den T-Zellen. Schliesslich wurde seine antiretrovirale Therapie im September 2017 unter Überwachung abgebrochen. Dreissig Monate später gilt er nun als geheilt.

Zum zweiten Mal hat damit eine CCR5-Delta-32-Stammzelltransplantation zu einer funktionellen Heilung geführt. Das Verfahren bleibt riskant und für Menschen mit HIV, die keine Krebsbehandlung benötigen, ist es keine Option.

PrEP & PEP
Die Prä-Expositionsprophylaxe PrEP ist aus den Präventionsinstrumenten nicht mehr wegzudenken. Auf zwei an der CROI eingereichten Forschungsarbeiten möchten wir kurz eingehen. Einen wichtigen Vorbehalt hat man vor Einführung der PrEP immer wieder gemacht – die möglichen Nebenwirkungen von Truvada. Da ist mal der Einfluss auf die Knochendichte, aber vor allem auch Nierenschäden. Die Toleranz für Nebenwirkungen ist bei einem Medikamenteneinsatz bei sonst gesunden Menschen tiefer als bei Menschen mit HIV. Eine australische Studie von Hamish McManus zeigt, dass über 50-jährige und Leute mit vorbestehenden Nierenbeschwerden am häufigsten von Nierenfunktionsstörungen betroffen sind5. Insgesamt waren etwa 2% der PrEP Konsumenten betroffen, doch die am meisten gefährdeten Gruppen liessen sich leicht definieren. Ein langfristiger Einsatz von PrEP ist damit bei den meisten PrEP Konsumenten möglich. Bei über 50-jährigen Konsumenten sind die Risiken aber deutlich höher – 8.3% sind betroffen. Das gleiche gilt für die glomeruläre Filtrationsrate: Nierenfunktionsstörungen sind sehr selten, wenn sie vor PrEP Einsatz im Normalbereich über 90 ist, die Häufigkeit ist 0.50 auf 1000 Personenjahre. Ist die glomeruläre Filtrationsrate schlecht, bei Werten um 60 bis 90, steigt die Häufigkeit auf 18.1 pro 1000 Personenjahre. Bei diesen Risikogruppen sollte man sich überlegen, ob eine intermittierende PrEP nicht auch möglich wäre.

Eine HIV-PrEP gegen Hepatitis B?
Nicht nur das, sie ist sogar wirksamer als die Schutzimpfung. Herausgefunden hat das eine japanische Forschergruppe um Daisuke Mizushima, in einer retrospektiven Kohortenstudie bei schwulen und bisexuellen Männern welche sexuelle Gesundheitskliniken besuchen6. Eine HIV-PrEP reduziert das Ansteckungsrisiko mit einer Hepatitis B um das Zehnfache. Ganz überraschend kommt das nicht – Truvada wird schliesslich in der Therapie gegen chronische Hepatitis B eingesetzt.
Soll man jetzt auf die Impfung verzichten? Die Antwort ist ganz klar nein. Eine PrEP wird unter Umständen kurzfristig oder vorübergehend abgebrochen, und dann stünde man ohne Impfschutz da. Und auch wenn der Impfschutz nicht immer optimal ist, reduziert die Impfung doch deutlich die Symptome einer Hepatitis B.

PEP
Lange ist’s her, seit man zum letzten Mal an einer CROI von der Postexpositionsprophylaxe PEP gesprochen hat. Der Grund ist einfach: es ist ethisch nicht verantwortbar, im PEP-Bereich placebokontrollierte Experimente durchzuführen. Gleich drei Studien wurden an der heurigen CROI präsentiert. Die für eine PEP empfohlene Therapie ist seit Jahren dieselbe – Truvada plus ein Integrase- oder Proteaseinhibitor, während 28 Tagen nach dem Risiko. Die französische IPERGAY-Studie zur intermittierenden PrEP hat uns gezeigt, dass wir wahrscheinlich mit Kanonen auf Spatzen schiessen und der grösste Teil dieser Therapie überflüssig ist. Zur Erinnerung: die intermittierende PrEP funktioniert mit 2 Truvada vor dem Sex, und zwei Pillen danach, nach 24 und 48 Stunden.

Gilead zeigt Daten aus einer Rhesus-Makakenstudie7. Verwendet wurde die 25mg Dosis von Tenofovir Alafenamid mit Emtricitabin oder die Dreierkombination mit dem Integrasehemmer Bictegravir. Die Affen kriegten entweder

  • keinen Schutz in der Kontrollgruppe
  • eine PrEP mit zwei oder drei Substanzen, zwei Stunden vor und 24 Stunden nach Exposition
  • eine PEP mit zwei oder drei Substanzen, 24 und 48 Stunden nach Exposition
  • eine verzögerte PEP mit zwei oder drei Substanzen, 48 und 72 Stunden nach Exposition

Die PrEP schützte 5 von 6 Affen mit zwei Substanzen, und alle Affen mit drei Substanzen. Die PEP Kombinationen hingegen funktionierten nicht. Am Schwächsten schnitt die verzögerte PEP ab. Danach wurde eine zweite Studie geplant, ohne Kontrollgruppe und ohne PrEP. Dafür wurde die Bictegravir-Dosierung auf 100mg erhöht. Vier Dosierungsschemen wurden geprüft:

  • 6 und 30 Stunden nach Exposition
  • 12 und 36 Stunden danach
  • 24 und 48 Stunden danach
  • 48 und 72 Stunden danach

Im Schema 6 und 30 Stunden wurden fünf von sechs Affen geschützt, das zweite Schema 12 und 36 Stunden schützte noch vier von sechs Affen. Das vierte Schema funktionierte gar nicht. Die Schlussfolgerung: Erstens braucht es drei Substanzen für eine PEP; zwei Substanzen genügen bei einer PrEP. Zweitens: Eine PEP muss so rasch als möglich eingeleitet werden, idealerweise innert 12 Stunden und spätestens innert 24 Stunden. Nach 36 Stunden oder noch später ist eine PEP nutzlos.

Ein kleines Vaginalzäpfchen funktioniert als PEP
Charles Dobard führte ein Experiment mit einem Vaginalzäpfchen mit den Medikamenten TAF und Elvitegravir durch8. Das Zäpfchen kann vaginal oder rektal verwendet werden. Vor einem Jahr zeigte Dobard an der CROI, dass dieses Zäpfchen als PrEP wirksam ist, und heuer zeigt er Daten mit einer PEP, welche den Äffchen innert vier Stunden nach Exposition eingeführt wurde. Vier von fünf Affen in der Kontrollgruppe wurden infiziert; in der aktiven Gruppe waren alle Tiere geschützt. Damit könnte dieses Zäpfchen zu einem weiteren Instrument in der Präventionswerkzeugkiste werden.

PEP mit nur zwei Dosen
Das Medikament Islatravir steht gegenwärtig in Phase 3 Studien, und damit kurz vor der Zulassung für die Therapie. Es gehört zu einer neuen Substanzklasse, der NRTTI – Nukleosid Reverse Transkriptase Translokations Inhibitoren. Der neue Wirkungsmechanismus verhindert den Zusammenbau von HIV-DNA an zwei Stellen. Das führt zu einer sehr hohen Wirksamkeit und einer hohen Resistenzbarriere. Als Therapie kann das Medikament theoretisch einmal pro Woche oder sogar nur einmal pro Monat eingenommen werden. Als PrEP Implantat könnte eine Dosis ein ganzes Jahr lang wirksam sein. Markowitz präsentierte sein Experiment mit einer hochansteckenden Bluttransfusion und zwölf Versuchsäffchen9.

Der erste Versuch dauerte einen Monat. Die Tiere erhielten das infizierte Blut gespritzt. Nach 24 Stunden, sowie acht, fünfzehn und zweiundzwanzig Tage danach erhielten sie eine Dosis Islatravir oral. Es gab auch eine Placebogruppe mit 6 Affen. Danach hatten sie eine Pause von 6 Wochen bis zur nächsten Spritze mit infiziertem Blut. Sie bekamen Islatravir nach einem, nach acht und nach fünfzehn Tagen. Dann machte man eine dritte Runde, mit Islatravir nach einem und acht Tagen und schliesslich eine vierte mit nur einer Dosis nach einem Tag.

In den ersten drei Versuchsreihen blieben alle Tiere vollständig geschützt. In der vierten Runde hingegen wurden zwei von sechs Tieren innert zwei bis sechs Wochen angesteckt. Auf den Einsatz beim Menschen übertragen könnten zwei Dosen im Abstand von einer Woche wirksam sein – möglicherweise würde gar eine Dosis genügen. Es bleibt allerdings die grösste Herausforderung: Auch diese PEP muss innert 24 Stunden eingeleitet werden. Bei einem Ansteckungsrisiko im Spital ist das kein Problem; in allen anderen Situationen aber schon. Doch es besteht die Möglichkeit, die PEP Behandlungen künftig massiv zu vereinfachen.

Übergewicht erhöht das Diabetesrisiko
Zwei grössere Studien sind sich einig: Gewichtszunahme nach Therapiebeginn erhöht zwar das Diabetesrisiko, nicht aber das Herz-Kreislaufrisiko bzw. Herzinfarktrisiko. In der südafrikanischen ADVANCE Studie wurde eine Ersttherapie mit drei verschiedenen Kombinationen ausprobiert10:

  • Dolutegravir, Tenofovir Alafenamid TAF und Emtricitabin
  • Dolutegravir und Truvada (TDF & Emtricitabin)
  • Efavirenz und Truvada

Die erste Kombination führte bei Frauen innert zwei Jahren zu einer Gewichtszunahme von 8kg; bei Männern 5kg; die zweite bei Frauen 5,5kg, bei Männern 4kg; und die dritte 3kg, respektive 1kg. Fast 30% der Frauen in der ersten Gruppe galten nach 96 Wochen als fettleibig, bei den Männern waren es 7%. Eher überraschend blieb das Herzinfarktrisiko minim. Das Risiko, innert zehn Jahren einen Diabetes zu entwickeln stieg jedoch um 0.90% im Arm mit TAF, 0.70% im Arm mit Efavirenz und 0.50% im Arm mit Dolutegravir/Truvada. Das bedeutet pro 1000 Patienten vier zusätzliche Diabetesfälle bei TAF statt Truvada mit Dolutegravir.

Die D:A:D Kohorte mit Daten von 43’000 Patienten aus Europa, den USA und Australien zeigte, dass die kardiovaskulären Risiken bei Gewichtszunahme nicht anstiegen11. Das Risiko einer Diabeteserkrankung hingegen erhöhte sich um den Faktor 1.5 bis 2 bei einer Body-Mass Index Zunahme um 2kg/m2. Die Daten der D:A:D Studie wurden unabhängig von spezifischen Therapien erhoben. Es ist deshalb nicht klar, ob die neusten Therapien dieselben Auswirkungen haben wie ältere Substanzen.

Lebenserwartung mit HIV
Menschen mit HIV werden gleich alt wie Menschen ohne HIV, aber sie bleiben weniger lang gesund. Das ist die Erkenntnis einer amerikanischen Studie von Kaiser Permanente, einem grossen integrierten Gesundheitsversorger12. Verglichen wurden die Daten von 39’000 Menschen mit HIV und 387’000 Menschen ohne HIV. Beobachtet wurde die Entwicklung vom Jahr 2000 bis 2016. War im Jahr 2000 die Lebenserwartung mit HIV im Schnitt 22 Jahre tiefer als ohne HIV, verkleinerte sich der Abstand bis 2016 auf 9 Jahre weniger. Und wenn der HIV-Patient seine Therapie bei mehr als 500 CD4 begann, wurde er sogar älter als der Mensch ohne HIV.

Die Forscher wollten dann noch wissen, wie lange die Menschen mit HIV gesund bleiben und überprüften die Datenbank auf Diagnosen, Testergebnisse und Rezepte, die auf chronische Leber-, Nieren- und Lungenerkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes oder Krebs hinweisen. Und es zeigte sich, dass ein 21-jähriger mit HIV bis zum 36. Altersjahr keine der genannten Erkrankungen hatte. Bei Menschen ohne HIV dauerte es hingegen sechzehn Jahre länger. Überraschenderweise zeigte sich dieser 16-Jahre Unterschied sowohl in der Periode 2014-2016 als auch von 2000-2003. Lebererkrankungen setzen bei Menschen mit HIV im Schnitt 24 Jahre früher ein; Nierenleiden 17 Jahre und Lungenerkrankungen 16 Jahre.

Das sind überraschende deutliche Zahlen. Die Frage stellt sich, ob Frauen gleich betroffen sind – in der Datenbank sind vor allem Männer erfasst; und ob sich diese Erkenntnisse auch auf Europa übertragen lassen.

Impfstoffe: Was ist neu?
Eine Session der Konferenz war der Diskussion über die kürzlich abgebrochene, gross angelegte Studie mit dem HIV-Impfstoff HVTN 702 (Uhambo) gewidmet13,14.

Von den 5’407 jungen südafrikanischen Frauen und Männern, die an der Studie teilnahmen, infizierten sich 123, denen ein Placebo verabreicht wurde, und 129, denen ein Impfstoff verabreicht wurde, mit HIV. Die Infektionsrate von 4% war damit für beide Gruppen nahezu identisch und erinnert daran, wie hoch die HIV-Inzidenz in Südafrika und Afrika südlich der Sahara ist.

HVTN 702 (Uhambo) war nur die erste von mehreren laufenden und geplanten Studien zur Wirksamkeit von HIV-Impfstoffen. Zeitlich noch am weitesten entfernt ist die HVTN 705 (Imbokodo), die 2022 fertiggestellt werden soll. Es werden 2’600 Frauen aus 7 afrikanischen Ländern im Alter von 18 bis 35 Jahren daran teilnehmen. HVTN 706 (Mosaico), die im vergangenen Herbst begann, wird Daten von 3’800 MSM und Transgender-Frauen im Alter von 18 bis 60 Jahren enthalten, die in acht Regionen der Welt leben.

Neue Horizonte
Bereits am ersten Tag bei CROI präsentierte ViiV Healthcare eine 48-wöchige Phase-III-ATLAS-2M-Studie, die bestätigt, dass die Wirksamkeit einer zweimonatlichen langzeitwirkenden Injektion von Cabotegravir/Rilpivirin mit einer monatlichen Injektion identisch ist15. 98% der Beteilitgten bevorzugten eine zweimonatliche langzeitwirkende Injektion im Vergleich zur täglichen oralen ART.

Das amerikanische Pharmaunternehmen Merck (MSD) präsentierte auf der CROI 2020 mehrere Berichte über das Medikament Islatravir (ISL), auch bekannt als MK-8591 oder EfdA, den ersten Nukleosid-Reverse-Transkriptase-Translokationsinhibitor seiner Klasse16.

In einem anderen Bericht, in dem die Modelldaten für klinische Studien der dritten Phase von ISL vorgestellt wurden, wurde das Potenzial für das wirksamste Produkt bei Verwendung von 0,75 mg in Kombination mit 100 mg Doravirin angekündigt17.

Die CROI präsentierte auch die neuesten Forschungsdaten von vielen anderen derzeit entwickelten potenziellen Anti-HIV-Wirkstoffen. Beispielsweise gab es die neuesten pharmakokinetischen und Sicherheitsdaten zu GS-9722, einem weitgehend neutralisierenden monoklonalen Antikörper (bNAb)18. Der Antikörper hat im Vergleich zum Vorgänger eine verbesserte Zusammensetzung, die eine verringerte Immunogenität und eine längere Halbwertszeit umfasst. Ein anderer potenzieller Anti-HIV-Wirkstoff, der mehrstufige HIV-Kapsid-Inhibitor GS-6207, hat positive Ergebnisse in einer klinischen Phase-1b-Studie gezeigt, bei der Sicherheit, antivirale Aktivität und Pharmakokinetik untersucht wurden19. Eine Phase-Ia-Studie bei HIV-negativen Patienten (Einzelinjektion (SAD) und Mehrfachinjektion (MAD)) und Phase-Ib-Studien bei HIV-positiven Patienten mit dem GS-9722-Wirkstoff präsentierte ebenfalls positive Ergebnisse.

Prodrugs von Tenofovir MK-8504 und MK-858320, die aufgrund der langen Halbwertszeit auf eine wöchentliche Einzeldosis hindeuten, zeigten positive Ergebnisse der Pharmakokinetik und der antiviralen Aktivität. Sie wurden in der Regel schnell absorbiert, waren gut verträglich und zeigten eine antivirale Aktivität, wobei die Zielplasmakonzentrationen von Tenofovirdiphosphat 7 Tage lang aufrechterhalten wurden.

Andere Modifikationen des Wirkstoffes Tenofovir, die lipophilen Prodrugs M1TFV und M2TFV21, die ebenfalls langzeitwirkend sein sollen, zeigten gute Ergebnisse bei der Bewertung des pharmakokinetischen Profils. M1TFV- und M2TFV-Nanopartikel zeigten 30 bzw. 15 Tage lang konstante Konzentrationen, während TAF tagsüber aus den Zellen ausgeschieden wurde.

Klinische Studien zu Phase IIb und III des experimentellen HIV-1-Bindungsinhibitors Fostemsavir (FTR), dem von ViiV Healthcare entwickelten oralen Prodrug von Temsavir (TMR), haben sich ebenfalls als vielversprechend erwiesen. 600 mg FTR zweimal täglich bei Patienten/-innen mit umfassender Behandlungserfahrung (HTE) und multiresistentem HIV (MDR-HIV) zeigte eine höhere Abnahme der HIV-1-RNA im Plasma vom 1. bis 8. Tag22.

ART für Kinder
Eine Sondersession auf der Konferenz widmete sich neuen Ansätzen zur Dosierung antiretroviraler Medikamente bei Kindern. Wie die Moderatoren der Session betonten, empfehlen die Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Abacavir in flüssiger Form als Teil des bevorzugten First-Line-Regimes für Kinder ab 28 Tagen23. Für Säuglinge unter drei Monaten gibt es jedoch keine zugelassene Dosis.

Dr. Tim Cressey präsentierte die Ergebnisse einer zusätzlichen Studie zur Sicherheit von Abacavir und zur Pharmakokinetik bei Kindern mit normalem und niedrigem Geburtsgewicht (Südafrika), denen das ART-Regime Abacavir + Lamivudin + Lopinavir/Ritonavir verschrieben wurde24. Kinder nahmen das Regime in den ersten drei Lebensmonaten ein. Nach den Ergebnissen der Studie kamen die Wissenschaftler/-innen zum Schluss, dass Abacavir in einer Dosis von 8 mg/kg Körpergewicht, das zweimal täglich eingenommen wird, bei Kindern unter drei Monaten gut vertragen wird.

Die zweite IeDEA-Studie in Südafrika, in der auch die Sicherheit und Wirksamkeit von Abacavir bei Kindern unter drei Monaten untersucht wurde, bestätigte die Ergebnisse von Cresseys Studie25.

Während der Sondersession wurden erstmals die Ergebnisse der ODYSSEY-Forschungsgruppe bekannt gegeben, die zeigen, dass Dolutegravir (50 mg), das zweimal täglich mit Rifampicin verabreicht wird, sicher und ausreichend ist, um den Induktionseffekt bei Kindern (6-18 Jahre alt) mit HIV/Tuberkulose-Koinfektion zu überwinden26.

Dolutegravir
Neben der Diskussion neuer Therapien und Behandlungsansätze wird die Präsentation neuer Daten zum Medikament Dolutegravir allmählich zur Tradition für die CROI. Diesmal waren dem Medikament gleich mehrere Vorträge gewidmet. Die Ergebnisse der IMPAACT 2010-Studie zeigten, dass die Anwendung einer antiretroviralen Therapie auf der Basis von Dolutegravir bei schwangeren Frauen mit einer höheren Häufigkeit verbunden ist, in der pränatalen Phase eine nicht nachweisbare Viruslast zu erreichen. Darüber hinaus war ein Regime, das Dolutegravir oder Tenofoviralafenamid enthielt, auch mit einer geringeren Anzahl von Frühgeburten und Todesfällen bei Neugeborenen verbunden als eine antiretrovirale Therapie auf der Basis von Efavirenz27.

Mit anderen Worten: Dolutegravir-Therapien wurden als die wirksamsten und sichersten für schwangere Frauen angesehen, obwohl bisherige Erkenntnisse bei der Anwendung in der frühen Schwangerschaft ein erhöhtes Risiko für angeborene Defekte des fetalen Neuralrohrs zeigten.

Strategien
Auf der Konferenz wurde vermutlich genauso viel über die Umsetzung verschiedener Behandlungs- und Präventionsstrategien gesprochen wie über neue Methoden der ART. Der Grund dafür ist die Komplexität des Kampfes gegen die HIV-Infektion. Neben den neuesten Arzneimitteln sind eine umfassende Einführung und systematische Überwachung ihres Einsatzes erforderlich.

Die Wirksamkeit der Strategie zur HIV-Behandlung als Prävention (TasP) hat einen signifikanten Einfluss auf die Verringerung der Anzahl neuer HIV-Infektionen bei schwulen und bisexuellen Männern in Australien vor der Einführung von PrEP. Dies wurde auf der CROI 2020 von Dr. Denton Callander von der University of New South Wales angekündigt28. Vor PrEP-Zeiten, zwischen 2012 und 2017, war ein signifikanter Rückgang der HIV-Virämie bei diagnostizierten schwulen und bisexuellen Männern von 17% im Jahr 2012 auf 4% im Jahr 2017 zu verzeichnen, während der Anteil der Männer mit nicht diagnostiziertem HIV (im mathematischen Modell) leicht zurückging: von 11% bis 9%.

Nicht weniger wichtig für die Konferenzteilnehmer waren die Daten aus der in Afrika durchgeführten SEARCH-Studie. In Kenia und Uganda beispielsweise hat die umfassende Umsetzung der Test- und Behandlungsstrategie zu einem Rückgang der Mutter-Kind-Übertragung von HIV von 4,4% (in Kontrollgruppen) auf 1,8% geführt29.

 

 

David Haerry und Alex Schneider / März 2020

 

 

 

 

1. http://www.croiconference.org/sessions/global-epidemiology-and-prevention-covid-19

2. https://www.treatmentactiongroup.org/webinar/pre-croi-community-hiv-cure-research-workshop-2020/

3. http://www.croiconference.org/sessions/sustained-hiv-remission-london-patient-case-hiv-cure

4. https://www.nytimes.com/2020/03/09/health/hiv-aids-london-patient-castillejo.html

5. http://www.croiconference.org/sessions/sustained-hiv-remission-london-patient-case-hiv-cure

6. http://www.croiconference.org/sessions/prophylactic-effect-prep-against-hbv-infection-among-msm

7. http://www.croiconference.org/sessions/bicftctaf-postexposure-prophylaxis-protects-macaques-against-rectal-shiv-infection

8. http://www.croiconference.org/sessions/demand-hiv-postexposure-prophylaxis-tafevg-vaginal-inserts-macaques

9. http://www.croiconference.org/sessions/weekly-oral-islatravir-provides-effective-pep-against-iv-challenge-sivmac251

10. http://www.croiconference.org/sessions/risks-metabolic-syndrome-diabetes-and-cardiovascular-disease-advance-trial

11. http://www.croiconference.org/sessions/changes-body-mass-index-and-risk-cardiovascular-disease-dad-study

12. http://www.croiconference.org/sessions/increased-overall-life-expectancy-not-comorbidity-free-years-people-hiv

13. http://www.croiconference.org/sessions/introduction-hvtn-702-study

14. http://www.croiconference.org/sessions/presentation-hvtn-702-study-data

15. http://www.croiconference.org/sessions/cabotegravir-rilpivirine-every-2-months-noninferior-monthly-atlas-2m-study

16. http://www.croiconference.org/sessions/islatravir-metabolic-outcomes-phase-iib-trial-treatment-naive-adults-hiv-1

17. http://www.croiconference.org/sessions/modeling-supported-islatravir-dose-selection-phase-iii

18. http://www.croiconference.org/sessions/safety-pharmacokinetics-gs-9722-hiv-negative-participants-and-people-hiv

19. http://www.croiconference.org/sessions/pk-food-effect-and-safety-oral-gs-6207-novel-hiv-1-capsid-inhibitor

20. http://www.croiconference.org/sessions/mk-8504-and-mk-8583-tenofovir-prodrugs-single-dose-pk-and-antiviral-activity-hiv

21. http://www.croiconference.org/sessions/long-acting-nanoformulated-tenofovir-prodrug

22. http://www.croiconference.org/sessions/fostemsavir-exposure-response-relationships-treatment-experienced-hiv-patients

23. http://www.croiconference.org/sessions/abacavir-dosing-effectiveness-and-safety-young-infants-living-hiv-europe

24. http://www.croiconference.org/sessions/abacavir-safety-and-pharmacokinetics-normal-and-low-birth-weight-infants-hiv

25. http://www.croiconference.org/sessions/abacavir-safety-and-efficacy-young-infants-south-african-observational-cohorts

26. http://www.croiconference.org/sessions/adequate-dolutegravir-exposure-dosed-bid-rifampicin-children-6

27. http://www.croiconference.org/sessions/safety-and-efficacy-dtg-vs-efv-and-tdf-vs-taf-pregnancy-impaact-2010-trial

28. http://www.croiconference.org/sessions/decreasing-community-viremia-associated-decreasing-hiv-incidence-australia

29. http://www.croiconference.org/sessions/population-level-hiv-free-infant-survival-search-trial

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