Arbeitsmigranten und -migrantinnen mit HIV in der COVID-19-Ära

Vor dem Ausbruch des Corona-Virus Sars-CoV-2 konnten wir nur raten, wie viele Menschen, die mit HIV leben, als Arbeitsmigranten/-innen ohne Krankenversicherung im Ausland arbeiten und leben. Viele von ihnen hatten keine Versicherung oder sie wussten gar nicht, ob sie eine haben.

Mit der Ankunft des neuen Virus wurden all diese Probleme aufgedeckt, und es zeigte sich das wahre Bild dessen, was wirklich war. Denn als die Grenzen geschlossen wurden, mussten viele Menschen, die mit HIV leben, die Hilfe von Nichtregierungsorganisationen in Anspruch nehmen, um ihre Therapie nicht zu unterbrechen.

Bis Anfang August fragten mehr als 300 Menschen nach Hilfe allein bei der international tätigen Organisation Life4me+. Von ihnen lebt und arbeitet mehr als die Hälfte in einem europäischen Land. Obwohl sie offiziell im Ausland arbeiten, gingen die meisten Arbeitsmigranten/-innen nicht davon aus, dass sie krankenversichert seien. Ihre Arbeitgeber – oder sie selbst – hatten zwar alle Formalitäten erledigt, aber nicht alle haben verstanden, welche Papiere sie ausgefüllt und unterschrieben hatten. Vor allem, wenn sie aus Ländern kommen, in denen es kein Konzept für eine Krankenversicherung gibt und wo der Staat alles für seine Bürger/-innen regelt. Sie hatten daher gar nicht erwartet, dass sie durch ihre Arbeits- oder Aufenthaltsbewilligung Anspruch auf medizinische Versorgung in dem Land haben würden, in dem sie arbeiten. Daher reisten sie vor der Corona-Krise alle drei Monate in ihre Heimat, um sich testen zu lassen und HIV-Medikamente zu erhalten.

Insofern hat die Coronavirus-Pandemie eine positive Seite. Denn all diese Menschen suchten nun nach Optionen, wie und wo sie ihre HIV-Therapie bekommen können, wenn sie sie nicht in ihren Herkunftsländern abholen können. Immerhin zahlen diese Menschen seit Jahren Steuern und alle Sozialversicherungsbeiträge, und erst COVID-19 ermöglichte es, all ihre Rechte in Anspruch zu nehmen.

Es war allerdings nicht einfach, Arbeitsmigranten/-innen ihre Rechte zu erklären und sie an eine Klinik zu vermitteln, wo sie eine Therapie erhalten, die von ihrer Versicherung gedeckt wird.

Das erste, was die Menschen davon abhielt, war die Angst, dass die Arbeitgeber etwas über ihren HIV-Status erfahren würden. Besonders, wenn es in ihrer Heimat möglich ist, Menschen „ohne Grund“ zu entlassen. Wer das auf die Länder Europas projiziert, hat verständlicherweise Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren. Das zweite, was sie zurückhielt, war die Sorge, dass die Migrationsbehörden von ihrem HIV-Status erfahren und sie aus dem Land ausweisen würden. Es gibt zwar kein einziges Land in West- und Mitteleuropa, in dem der HIV-Status es den Menschen nicht erlauben würde, legal dort zu bleiben und zu arbeiten. Aber viele Arbeitsmigranten/-innen kommen aus Osteuropa und Zentralasien, wo einige Länder weiterhin restriktive Gesetze zum HIV-Status von Ausländer/-innen haben. All dies liess sie befürchten, dass ihnen im Ausland dasselbe passieren könnte, was mit HIV-positiven Ausländer/-innen in ihrer Heimat geschieht. Diese beiden Barrieren liessen sich durch Information und Aufklärung überwinden. Life4me+ konnte erklären, dass diese Bedenken nicht der Rechtslage in der EU entsprechen.

Doch dann gab es einen dritten Stolperstein: die Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen mit HIV. Alle äusserten dieselbe Befürchtung: „Und wenn jemand sieht, wohin ich gehe, wissen alle sofort, dass ich HIV-positiv bin.“ Viele kennen aus ihrer Heimat spezielle Kliniken zur Behandlung von HIV-Infektionen und betrachten sie wie Ghettos für Menschen mit HIV. Alle diese Kliniken tragen ungewöhnliche und diskriminierende Namen wie „AIDS-Zentrum „. Das führte zu Stigmatisierungen gegenüber Menschen, die mit HIV leben. Der Begriff „AIDS“ führt darüber hinaus zu Depressionen und Angstzuständen, bei denen, deren HIV-Infektion kein Aids-Stadium haben.

Diese dritte Barriere war für viele schwer zu überwinden, da sie auf dieser Grundlage auch ein Selbststigma entwickelten. Es schien für sie dann einfacher, die Therapie abzubrechen und erst später, nach der Pandemie, in ihrer Heimat wieder aufzunehmen, als im Ausland in eine Klinik zu gehen. Auch wer in der Heimat schlechte Erfahrungen mit der Einstellung von Ärzten/-innen zu HIV-positiven Patienten/-innen gemacht hatte, liess sich von der Angst abhalten, im Ausland zu einem Arzt oder einer Ärztin zu gehen, ganz besonders, wenn noch eine Sprache-Barriere hinzukommt.

Glücklicherweise gelang es, alle an gute Kliniken zu vermitteln. Nach dem erfolgreichen Arzt-Besuch fiel den Arbeitsmigranten/-innen eine grosse Last von den Schultern. Sie fühlten sich endlich als Teil der Gesellschaft in dem Land, in dem sie arbeiten, und nicht mehr als Aussenseiter, die Angst vor allem haben und ausgenutzt werden.

Es gab aber auch Fälle, in denen Arbeitsmigranten/-innen nicht versichert waren, da die Arbeitgeber dies ihren Mitarbeitenden vorenthielten. Die Corona-Krise veranlasste mehr Menschen, darauf zu achten, und Life4me+ konnte ihnen helfen, ihre Rechte zu verteidigen und eine Versicherung abzuschliessen.

Das Problem der mit HIV lebenden Arbeitsmigranten/-innen ist in Europa weiterhin akut. Leider gibt es nur wenige Dienste, die diese Menschen zu Beginn ihres Auslandslebens begleiten. Viele kennen ihre Rechte nicht und Arbeitgeber nutzen dies aus. All dies verschärft die Überlebensängste und führt zu Depressionen. Wenn Menschen bereit sind, ihre HIV-Therapie aufzugeben, um nicht im Ausland zum Arzt oder zur Ärztin gehen zu müssen, ist das in jeder Hinsicht falsch.

 

Alex Schneider / August 2020

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