Menschen mit HIV haben heute meist eine recht gute Lebensqualität und ihre Lebenserwartung hat sich dank den hoch wirksamen Therapien praktisch derjenigen der Allgemeinbevölkerung angeglichen. Die erfreuliche Entwicklung, dass Menschen mit HIV älter werden, bringt auch neue Herausforderungen mit sich. Mit dem Älterwerden treten – nebst den üblichen altersbedingten Beschwerden – auch Langzeitnebenwirkungen der Medikamente oder Langzeitfolgen der HIV-Infektion auf . Probleme können auftreten, wenn der Zeitpunkt kommt, an dem sie Hilfe oder Pflege in Anspruch nehmen müssen, sei dies zu Hause durch Partner, Verwandte, Freunde, durch einen ambulanten Pflegedienst wie Spitex oder gar in der stationären Pflege in einem Spital, einem Alters- oder Pflegeheim.

Die Schweizer Schwulenorganisation PINK CROSS hat kürzlich in Zusammenarbeit mit LOS und den Fachhochschulen Bern und Luzern eine Sensibilisierungsstudie unter dem Titel: «LGBTI- und HIV+/aidskranke Menschen in Alters- und Pflegestrukturen»1 durchgeführt.

Die Untersuchung erfasst die Pflege bei zwei Personengruppen, die zwar eine gemeinsame Schnittmenge haben, sich aber bezüglich ihrer Ansprüche und Bedürfnisse unterscheiden. Nämlich auf der einen Seite die LGBTI, die heute etwas selbstbewusster auftretende Gruppe von Personen, die sich in ihrer Genderidentität vom Mainstream unterscheiden (etwa 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung). Auf der anderen Seite Menschen, die mit einer HIV-Infektion leben. Von diesen sind die meisten heute in antiretroviraler Behandlung und haben somit eine nicht mehr nachweisbare Viruslast, was heisst, dass sie nicht mehr ansteckend sind. Die Zahl der Menschen mit der lebensbedrohenden Krankheit Aids ist heute glücklicherweise klein und wurde in der Studie nicht einbezogen.

Die Studie kommt zum Schluss, dass immer noch nicht sichergestellt ist, dass jeder LGBTI- oder HIV-positive Mensch in einer Alters- und Pflegeeinrichtung voll akzeptiert wird. Die wichtigsten Folgerungen sind:

Leider sind bei medizinischen Fachleuten teilweise immer noch irrationale Ängste vorhanden rund um ältere Menschen mit HIV in der Pflege. Noch zu wenig bekannt ist, dass bei funktionierender antiretroviralen Therapie mit nicht nachweisbarer Viruslast kein Infektionsrisiko mehr besteht, weder für die Pflegenden noch für die Mitpatienten. Besondere Hygienemassnahmen sind nicht erforderlich; sie werden von den Betroffenen als diskriminierend empfunden.

Die Pflege älterer Patienten umschliesst heute auch Menschen mit HIV. Das Pflegepersonal muss sich deshalb mit den Krankheitsbildern auseinandersetzten und es muss wissen, dass eine HIV-Infektion – oder die Medikamente – den Alterungsprozess möglicherweise beschleunigen (Arthrose, Osteoporose, Herz-Kreislauf-Beschwerden, psychische und psychosomatische Störungen, etc.). Gerade bei älteren Patienten mit HIV ist die Adhärenz wichtig. Die Pflegenden müssen besonders bei Patienten mit hirnorganischen Störungen hierauf achten.

Auch das psychosoziale Umfeld muss beachtet werden: Häufig kommt es auch von Seite der Mitpatienten bzw. -bewohner zu Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen mit HIV, da dieser Themenkreis immer noch weitgehend tabuisiert ist.

Schliesslich seien noch die Persönlichkeitsrechte der HIV-Infizierten erwähnt. Niemand ist verpflichtet, eine HIV-Infektion offenzulegen. Und das Pflegepersonal – falls es davon Kenntnis hat – muss damit verantwortungsvoll und diskret umgehen.

Ein gewisses Minimum an Informationen über den Umgang mit Menschen mit HIV sowie mit älteren LGBTI und deren Erwartungen und Bedürfnisse sollte auch in den Ausbildungskursen Eingang finden. Die Themenbereiche LGBTI und HIV/Aids müssen zudem in den Leitbildern der Pflegeinstitutionen besser verankert werden und das Pflegepersonal muss hierfür sensibilisiert werden.

PINK CROSS und LOS planen, die Studie weiterzuführen und um die Perspektive der Betroffenen selbst zu erweitern.

 

Hansruedi Völkle / März 2017

 

1 Siehe : https://www.pinkcross.ch/de/aktuelles/leben/alter/160923-studie-zu-lgbt-im-alter