Ältere HIV-positive Menschen und ihre psychische Gesundheit

HIV und die daraus resultierende chronische Immunaktivierung erhöhen das Risiko für psychische Gesundheitsprobleme. Milde Depressionen bis schwere psychische Störungen treten dabei häufiger bei älteren Menschen mit HIV auf. Eine angeschlagene psychische Gesundheit schwächt die Wirksamkeit der gesamten HIV-Behandlungskette. Dies gilt für die meisten von der Epidemie betroffenen Bevölkerungsgruppen in den verschiedenen Regionen der Welt. Dieser Artikel fasst wichtige Folgerungen aus fünf wissenschaftlichen Publikationen zusammen.

Weltweit leben heute über 30 Millionen Menschen mit HIV. Die enormen biomedizinischen Fortschritte bei Prävention und Behandlung von HIV ermöglichten eine Eindämmung der Epidemie und eine weltweite deutliche Reduktion der Sterberate bei den Betroffenen. Viele von ihnen führen heute ein weitgehend uneingeschränktes Leben und können ihren Beruf weiter ausüben, bei kaum reduzierter Lebensqualität. Sofern sie HIV-supprimiert sind, sind sie auch bei ungeschütztem Sex nicht mehr ansteckend. Die PrEP trägt zusätzlich zur Reduktion der Ausbreitung von HIV bei den MSM bei. Allmählich rückt das UNO-Ziel von 90—90—90 (90% sind diagnostiziert, 90% sind unter ART und 90% sind HIV-supprimiert) in greifbare Nähe.

Das eigentliche Ziel der Eindämmung der HIV-Epidemie wird jedoch nicht erreicht, solange nicht auch auf die erheblichen psychischen Gesundheits- und Suchtprobleme bei Menschen mit HIV eingegangen wird. Diese werden zu einer sozialen und wirtschaftlichen Herausforderung für eine angemessene und nachhaltige Gesundheitsversorgung der Betroffenen und sind mittlerweile das schwierigste Hindernis für eine erfolgreiche Beendigung der HIV-Epidemie. Der Anteil an psychischen Gesundheitsproblemen ist nämlich bei Menschen mit HIV höher als bei Allgemeinbevölkerung. Aber schon in der letzteren sind psychische und Suchterkrankungen mittlerweile zu den grössten Gesundheitsproblemen geworden, denn sie erhöhen die Sterblichkeit und damit den Verlust an Lebenserwartung um 15 bis 20 Jahre.

Menschen mit HIV werden immer älter
Die Population der HIV-positiven Menschen wird kontinuierlich älter, sodass in den industrialisierten Ländern bereits die Hälfte von ihnen über 50 sind. HIV und eine langzeitige Behandlung mit antiretroviralen Medikamenten können jedoch den Alterungsprozess beschleunigen. So ergeben sich bei der Pflege von Menschen mit HIV vermehrt auch spezifisch geriatrische Probleme. Komorbiditäten treten auf, die das Herz-Kreislauf-System, die Nieren oder die Leber betreffen, das Krebsrisiko erhöhen, oder jenes von Osteoporose. Sie können auch zur Beeinträchtigung kognitiver Funktionen und der Gedächtniskapazität führen. Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit manifestieren sich durch psychotisches Verhalten, Neigung zu Bipolarität oder chronische Depressionen. Damit einher gehen eine verminderte Selbstachtung, der Missbrauch von Alkohol, Tabak und Drogen, aber auch soziale Isolation, Ausgrenzung und Stigmatisierung als HIV-infizierte. Diese Faktoren vermindern das Selbstwertgefühl und vergrössern die Risikobereitschaft und damit auch die Wahrscheinlichkeit sich mit anderen sexuell übertragbaren Krankheiten anzustecken. Sie haben auch einen negativen Einfluss auf die Therapietreue, einer der Hauptfaktoren für den Erfolg einer eine Langzeit-HIV-Therapie.

Ältere Menschen mit HIV leiden stärker unter diesen Krankheitserscheinungen, und zusätzlich sind deren Auswirkungen bei ihnen gravierender als bei jüngeren. Remien et al identifizieren folgende vier Problembereiche im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen von älteren HIV-positiven Menschen: Eine erhöhte Vulnerabilität im sozialen Umfeld (z.B. tiefer Bildungsstand, Mangelernährung, Armut und Verwahrlosung, andere Erkrankungen wie TB oder Hepatitis, Drogen- und Alkoholabhängigkeit, Prostitution, Angehörige ethnischer Minderheiten, …), eine Beeinträchtigung der Wirksamkeit der HIV-Behandlungskette (z.B. mangelhafte Compliance, Unterbrüche der medizinischen Kontrollen und der sozialen Betreuung, reduziertes gesundheitsbewusstes Verhalten), ein durch Depressionen geschwächtes Immunsystem (die chronische Immunaktivierung durch ART führt über biochemische Prozesse zu einer Schwächung des Immunsystems, etwa zur Abnahme der CD4-Zellen und damit zur Anfälligkeit auf die eingangs geschilderten Komorbiditäten und opportunistische Infekte) und schliesslich eine durch Depressionen erhöhte Sterblichkeit.

Stigma vermindert Fähigkeit zu Resilienz
Stigma und Ausgrenzung führen weiter auch zu Verunsicherung und existentiellen Ängsten, etwa über die eigene Zukunft. Das wiederum vermindert die Resilienz, also die Kapazität, erfolgreich eine Herausforderung selbständig zu meistern, etwa das Management einer Krankheit mit einer belastenden Therapie und den damit einhergehenden Einschränkungen für das tägliche Leben. Studien haben gezeigt, dass in den USA Depressionen und Angstzustände bei HIV-Positiven fünf- beziehungsweise siebenmal häufiger sind als in der übrigen Bevölkerung. Ähnliche Verhältnisse werden auch aus anderen Ländern berichtet. Charles Furlotte und Karen Schwartz haben psychische Gesundheitsprobleme bei älteren Menschen mit HIV an 52-76-jährigen Betroffenen der Region Ottawa in Kanada im Rahmen einer Studie erfasst. Sie identifizierten drei Kernbereiche:

ThemaErfahrungen der befragten Betroffenen
VerunsicherungWie lange werde ich mit meiner HIV-Infektion überleben? Ich habe Schwierigkeiten meine Krankheitssymptome zu interpretieren und zu verstehen. Ich bin mit den medizinischen Fragen überfordert und fühle mich hilflos und im Stich gelassen.
StigmaIch fühle mich vom Gesundheits- und Pflegesystem diskriminiert. Ich habe das Gefühl, ungenügend und falsch informiert zu werden. Ich werde aufgrund meines körperlichen Erscheinungsbildes diskriminiert. Das Unvermögen mit meiner Situation selbst fertig zu werden und meine Befürchtungen, dass sich mein Gesundheitszustand noch weiter verschlechtert, vergrössert meine Ausgrenzung und Isolation.
Persönliche Beiträge zur ResilienzIch versuche den Platz, den HIV in meinem Leben einnimmt, zu reduzieren. Ich habe mich daran gewöhnt, mit HIV zu leben, habe alles unter Kontrolle und bemühe mich um die nötige Unterstützung und Hilfe. Ich engagiere mich im Netzwerk der Community für andere Betroffene. 

 

Remien et al empfehlen folgende Massnahmen:

  • Screening (systematische Erfassung psychischer Störungen oder auch schon Anzeichen für solche, bei den regelmässigen Konsultationen)
  • Behandlung (Angebote für Therapien, Tabak- und Alkohol-Entziehungskuren, Gruppen- und Motivationskurse, Ausbildung der Pflegenden, Unterstützung der Personen aus dem direkten Umfeld der Betroffenen)
  • an die spezifischen Verhältnisse angepasste Interventionsmodelle (einschliesslich der Nutzung moderner technischer Kommunikationsmittel)
  • Massnahmen in der HIV-Community und bei der Bevölkerung (Informationskampagnen wie etwa «Treatment = Prevention», über die PrEP, Alkohol- und Tabakprävention, Angebote für Therapien und persönliches Gesundheits-Coaching).

Die wichtigsten Schlussfolgerungen (Key-Points der Publikation von Sergio Ruada et al)

  • Ältere Menschen mit HIV stehen vor besonderen psychosozialen Herausforderungen, dies vor allem durch multifaktorielle Komorbiditäten, die sowohl deren psychische Gesundheit, deren neurokognitive Funktionen, den Zugang zu Unterstützung durch das soziale Netzwerk als auch den Erfolg von möglichen Strategien für ein erfolgreiches Altern mit HIV beeinträchtigen.
  • Die Forschungsanstrengungen sollten sich deshalb auf ein Konzept für ein erfolgreiches Altern mit HIV konzentrieren. Dieses soll auf einem umfassenden Gesundheitsmanagement aufbauen, das die antiretrovirale Kombinationstherapie mit der Erfassung von möglicherweise auftretenden psychischen Problemen und einem entsprechenden therapeutischen Management verbindet.
  • Neuartige Interventionsforschung sollte sich mit folgenden Themen befassen: Offenlegung einer HIV-Infektion, Probleme im sozialen Umfeld sowie eine Unterstützung, die darauf ausgerichtet ist, das psychosoziale Wohlbefinden älterer Menschen mit HIV zu erfassen und zu verbessern.
  • Kognitive Rehabilitations- und Verhaltensinterventionen sind zu entwickeln, die zur Stärkung der psychischen Gesundheit beitragen, mit dem Ziel, die neurokognitiven Beeinträchtigungen zu mildern, die beim Altern mit HIV und insbesondere im Zusammenhang mit multiplen Komorbiditäten auftreten.
  • Gesundheitsdienstleister, Sozialdienste sowie Entscheidungsträger sollten Erfahrungen über das Altern mit HIV sammeln und auswerten, um daraus für ältere Menschen mit HIV spezifische Programme und Dienstleistungen zu erarbeiten, damit diese ihre psychosozialen Herausforderungen besser bewältigen können.

 

Hansruedi Völkle / März 2020

 

Referenzen:

  • Christine Zinkernagel, Patrick Taffé, Martin Rickenbach, Regula Amiet, Bruno Ledergerber, Anne-Christine Volkart, Udo Rauchfleisch, Alexander Kiss, Verena Werder; Pietro Vernazza and Manuel Battegay (for the Swiss HIV Cohort Study): Importance of Mental Health Assessment in HIV-Infected Outpatients in JAIDS, Journal of Acquired Immune Deficiency Syndromes, Vol. 28/3: 240-249 (2001).
  • Robert H. Remien, Michael J. Stirratt, Nadia Nguyen, Reuben N. Robbins, Andrea N. Pala and Claude A. Mellins: Mental health and HIV/AIDS: the need for an integrated response, in AIDS, Vol. 33/9, pp. 1411-1420 (2019)
  • Research on Older Adults with HIV. Principal Investigators: Stephen E. Karpiak, R. Andrew Shippy; ROAH Advisory Committee Chairperson: Marjorie Cantor. AIDS Community Research Initiative of America, 230 West 38th Street, New York
  • Charles Furlotte and Karen Schwartz: Mental Health Experiences of Older Adults Living with HIV: Uncertainty, Stigma, and Approaches to Resilience, in Canadian Journal on Aging / La Revue canadienne du vieillissement, Vol. 36 (2) : 125–140 (2017), doi:10.1017/S0714980817000022
  • Sergio Ruada, Stephanie Law, Sean B. Rourke: Psychosocial, mental health, and behavioral issues of aging with HIV, in Curr Opin AIDS, Vol. 9/4: 325-331 (2014)

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