Ein dominierendes Thema: PrEP, eine Überraschung: die Heilung eines HIV-positiven Kindes aus Südafrika, ein paar Neuigkeiten von der Therapieseite und Bewegung zum Thema „Undetectable“.
BBC News: Matt erzählt, wie die PrEP sein Leben verändert hat (englisch)
Heilung
Für grosse Schlagzeilen sorgte ein neun Jahre altes Kind aus Südafrika. Es wurde HIV-positiv geboren. Während 40 Wochen erhielt der Säugling eine antiretrovirale Therapie im Rahmen einer Studie. Seit 8.5 Jahren lebt das Kind nun ohne Therapie1. Es hat keine Krankheitssymptome und keine nachweisbaren HI-Viren. Eine sehr frühe Therapie greift das Virus an, bevor es sich völlig einnisten kann. Es ist das dritte Mal, dass durch dieses Vorgehen ein Kind geheilt wird.
Ein anderes Kind aus Frankreich wurde ab dem 3. Lebensmonat während fünf bis sieben Jahren therapiert. Elf Jahre nach Therapieende ist dieses Kind noch immer virusfrei. Ein weiteres Kind, das als „Mississippi Baby“ bekannt wurde, erhielt 30 Stunden nach der Geburt während 18 Monaten eine Therapie und lebte anschliessend 27 Monate virusfrei.
Das südafrikanische Kind wird weiter beobachtet. Wenn man verstehen würde, wie dieses Kind ohne Therapie geschützt ist, könnte man möglicherweise eine neue Therapie oder einen Impfstoff entwickeln.
Eine grössere Studie mit 42 Neugeborenen ist noch am Laufen. Diese Kinder wurden sofort nach der Geburt therapiert. Das erste Kind wird seine HIV-Therapie gegen Ende 2017 abbrechen können.
Undetectable = untransmissable
Eigentlich logisch: wo kein Virus ist, wird auch keines übertragen. Aber 30 Jahre Angst vor HIV lassen sich nur schwer wegdenken. Die internationale „Opposites-Attract“ Studie beobachtet 343 schwule und serodiskordante Paare, welche ungeschützten Sex hatte2. 16’889 ungeschützte Analsex-Kontakte führten zu keiner einzigen HIV-Übertragung. Die Erkenntnisse von „Opposites-Attract“ ergänzen sich mit der Partner-Studie. Wenn man beide Studien zusammenrechnet, sind es 40’000 Mal ungeschützter Analsex ohne eine einzige Ansteckung. Trotz anderen Geschlechtskrankheiten unter serodiskordanten schwulen Paaren und unabhängig von der Stellung beim Sex (aktiv oder passiv) gibt es keine HIV-Übertragungen in diesem Setting. Mit der Lancierung der „U=U“-Kampagne und dem Expert Consensus Statement wurden denn auch in Paris ein deutliches Zeichen gesetzt3. Der „U=U“-Kampagne wünschen wir viel Erfolg – sie ist ein wichtiges Zeichen im Kampf gegen die Stigmatisierung.
Die Therapie von morgen?
Die antiretrovirale Therapie funktioniert langfristig, und sie wird heute sehr gut vertragen. Aber das Gute kann man verbessern. Seit über zehn Jahren läuft die Entwicklung der antiretroviralen Substanzen mit Langzeitwirkung.
In der Studie LATTE-1 hatte man geprüft, ob eine auf zwei Substanzen reduzierte Erhaltungstherapie in Tablettenform wirksam ist und ob sie von den Patienten vertragen wird. Die Studienteilnehmer hatten vorher die Therapie mit einer traditionellen Kombination aus drei Substanzen eingeleitet. LATTE-1 zeigte vor zwei Jahren, dass 76% der Teilnehmenden nach zwei Jahren Dualtherapie die Viruslast erfolgreich unterdrückten – dies im Vergleich zu bloss 63% im Studienarm mit der damals üblichen Dreierkombination auf Basis efavirenz.
Auf dieser Grundlage wurden in der Folgestudie LATTE-2 die intramuskulär gespritzten Substanzen cabotegravir und rilpivirine als Nanosuspension verabreicht4. Geprüft wurden zwei Dosierungen: 400mg cabotegravir & 600mg rilpivirine alle vier Wochen sowie 600mg cabotegravir & 900mg rilpivirine alle acht Wochen. Eine dritte Gruppe schluckte die Pillenformulierung einmal pro Tag. Nach zwei Jahren war bei 94% der Patienten auf der 8-Wochendosis die Viruslast nicht nachweisbar, bei 87% in der 4-Wochendosis und bei 84% bei der täglichen Einnahme von Pillen. Die Nebenwirkungen waren in allen drei Armen vergleichbar.
Fast alle Teilnehmenden berichteten von Irritationen an der Einstichstelle. Diese waren aber mild bis moderat und alle vorübergehend. Bloss zwei Studienteilnehmer brachen die Therapie deswegen ab. Insgesamt waren die Patienten mit dieser Formulierung sehr zufrieden. Sie schätzten die ungewohnte Freiheit, nicht mehr täglich Pillen schlucken zu müssen.
Nun war die monatliche Spritze etwas weniger erfolgreich als die Dosierung alle acht Wochen. Es könnte aber sein, dass die Abgabe alle vier Wochen langfristig erfolgreicher ist, weil es bei dieser Dosierung weniger schlimm ist wenn man sie mal vergisst oder zu spät dran ist.
Die langfristig wirksame Therapie wird jetzt in einer Studie der Phase 3 geprüft. Falls diese erfolgreich verläuft, wird eine Zulassung durch die Behörden möglich.
PrEP – das grosse Thema in Paris
Mit grosser Spannung wurden die neusten Daten zur Prä-Expositionsprophylaxe PrEP erwartet, und man wurde nicht enttäuscht. Die grösste englische Klinik an der Dean Street in London, wo Geschlechtskrankheiten vor allem schwuler Männer behandelt werden, berichtet von einem Rückgang der Gonorrhöe Diagnosen um 24%5. Gleichzeitig gingen die Neudiagnosen von HIV in London um 42% zurück. Die Leiterin der PROUD PrEP Studie Sheena McCormack meint, der Rückgang könnte im Zusammenhang mit dem häufigeren Testen stehen. Bei Chlamydien sieht man bisher keine Auswirkung – allerdings ist hier die Inkubationszeit länger (das heisst, es dauert länger bis die Bakterien nachweisbar sind). In Australien, wo die PrEP mittlerweile in 5 Bundesstaaten erhältlich ist, gingen die HIV-Neudiagnosen um 29% zurück6. Mitzy Gafos zeigte die Resultate einer qualitativen Studie über die psychosozialen Auswirkungen von PrEP7. Dabei wird klar, dass die Verfügbarkeit der PrEP die bisherigen Risiko-Management Strategien nicht einfach über den Haufen wirft, sondern diese ergänzt. Anders ausgedrückt: Wer vor der PrEP Kondome eingesetzt hat, verzichtet mit PrEP nicht automatisch ganz darauf. Überraschend deutlich äussern sich viele interviewte Teilnehmer über die psychosozialen Vorteile der PrEP. Man kann es verstehen – nach 25 Jahren zum ersten Mal angstfreien Sex zu erleben, ist eine Befreiung.
Auch die Franzosen hatten neue Daten. Die Ipergay-Studie in Frankreich hat bekanntlich die Wirksamkeit von „PrEP bei Bedarf“ untersucht (alle anderen PrEP-Studien basieren auf täglicher Einnahme). Einige kritisierten die französische Studie, weil die Teilnehmer sexuell derart aktiv waren, dass die meisten fast ständig Truvada nahmen. In einer Substudie wurden jetzt Leute untersucht, die sexuell weniger aktiv waren und Truvada weniger häufig nahmen8. Zur Erinnerung: bei Ipergay nehmen die Studienteilnehmer 2 Tabletten Truvada 2 bis 24 Stunden vor möglichem ungeschütztem Sex sowie noch zweimal an den zwei folgenden Tagen (insgesamt 4 Pillen). Die Substudie konzentrierte sich auf Männer, welche weniger als 15 Pillen pro Monat brauchten. Weil die sexuelle Aktivität der Leute schwankt, gehörten letztendlich 31% der Teilnehmer in diese Kategorie. Die Studienteilnehmer welche Truvada genau nach Schema nahmen, waren komplett geschützt – es wurde keine Ansteckung verzeichnet. Mittlerweile nehmen 3’000 schwule Männer in Frankreich eine PrEP. Diese wird durch das Gesundheitssystem bezahlt. Jean-Michel Molina präsentierte auch Ipergay Follow-up Daten von 1806 Personen in Montreal und Frankreich. Es kam in dieser Gruppe zu keiner HIV-Infektion. Ohne PrEP hätten sich statistisch errechnet 119 Menschen angesteckt.
In einem nächsten Schritt will Frankreich die Auswirkung von PrEP auf die HIV-Epidemie untersuchen. Die Studie „Prévenir“ wird 3’000 PrEP-User einschliessen und über drei Jahre laufen9. Sie konzentriert sich auf die Region Paris, wo am meisten Neudiagnosen gezählt werden. Die Studie sollte auch Erkenntnisse über die Qualität und Wirksamkeit verschiedener Abgabesysteme liefern sowie über soziale Gruppen, welche wenig über die PrEP wissen.
Eine noch laufende holländische Studie möchte herausfinden, ob schwule Männer lieber eine permanente PrEP möchten oder aber PrEP bei Bedarf. Die Implementierungsprogramme in Frankreich und in Schottland sowie die geplante grosse Studie in England offerieren den Teilnehmern diese Wahl. AmPrEP in Amsterdam untersucht nun, warum die Leute sich für die eine oder andere Strategie entscheiden10. Die Studie hat 376 Teilnehmer und läuft bis im Dezember 2018. Alle Teilnehmer werden interviewt. Bei Studienbeginn wählten 273 Männer eine tägliche PrEP und 103 eine PrEP bei Bedarf. Bis Februar 2017 hatte fast die Hälfte der Männer mit PrEP bei Bedarf auf eine tägliche PrEP gewechselt; 14% der Gruppe mit täglicher PrEP wechselten auf PrEP bei Bedarf. 5% haben die PrEP ganz abgesetzt und 26% haben zwischendurch eine Pause gemacht und wieder angefangen.
Der häufigste Grund für eine tägliche PrEP war der Wunsch nach Routine und Struktur, die Angst vor mangelnder Adhärenz bei einer PrEP bei Bedarf oder die Überzeugung, dass die Studienteilnehmer sehr häufig Sex haben oder diesen nicht planen wollen. Die häufigsten Gründe für PrEP bei Bedarf sind, dass die Männer Sex in der Regel planen, dass sie nur selten riskanten Sex haben, dass sie Respekt vor den Nebenwirkungen einer täglichen PrEP oder Angst vor mangelnder Adhärenz bei einer täglichen Einnahme haben.
Viele Männer wechselten das Schema später von PrEP bei Bedarf auf täglich. Die hauptsächlichen Gründe: Das Risikoverhalten nahm zu oder es zeigte sich als schwierig, Sex immer zu planen. Oder sie wollten mehr Struktur, hatten Nebenwirkungen mit der PrEP bei Bedarf oder die Risikosituationen waren schlicht zu häufig. Einige Männer wechselten von täglicher Einnahme auf PrEP bei Bedarf. Die Hauptgründe: Sie hatten weniger oft Sex als erwartet, sie wollten nicht mehr täglich Pillen schlucken oder die tägliche PrEP hatte Nebenwirkungen.
Die Männer, welche zwischendurch eine Pause machten, hatten Schwierigkeiten mit der Adhärenz, sie hatten Perioden ohne Sex, waren zwischendurch krank oder sie gingen eine monogame Beziehung ein.
Diese wichtige Studie zeigt, dass eine PrEP nicht starr nach Schema X funktioniert, sondern sorgfältig auf die momentanen Bedürfnisse angepasst werden muss.
Zukunftsmusik
Attraktiv wäre eine PrEP als Spritze mit Langzeitwirkung: Die Substanz cabotegravir alle 8 Wochen ist sowohl bei Männern wie auch bei Frauen wirksam11. Die Blutspiegel sind hoch genug, um eine HIV-Infektion wirksam abzuwehren. Bei einer zweiten Substanz, rilpivirine, funktioniert die Strategie jedoch nicht12.
Die Adhärenz ist bei der PrEP ein wichtiges Thema. Die frühen PrEP Studien haben das mit aller Deutlichkeit gezeigt. Substanzen mit Langzeitwirkung sind deshalb interessant. Eine weitere Studie, welche gespritztes cabotegravir mit täglichem Truvada vergleicht, ist bereits am Laufen.
Weitere Themen
Mehrere Präsentationen widmeten sich den HIV-Selbsttests sowie der speziellen Situation von Transmenschen. Aus Platzgründen können wir hier nicht darauf eingehen.
Kommentar
Europa preppt erfolgreich, verhindert Neuansteckungen und publiziert sehr interessante Daten. Die Schweiz hinkt hinterher, die Neudiagnosen nehmen zu und der Druck an der Basis steigt. Bei der Aids-Hilfe Schweiz scheint man sich um das Thema regelrecht zu foutieren. Eine Suche nach dem Stichwort „PrEP“ auf der Webseite der AHS ergibt ein einziges Resultat. Für eine Organisation, die sich die HIV-Prävention auf die Fahne schreibt und sich dafür vom Bund bezahlen lässt, ist das inakzeptabel. Die HIV-Prävention ist nur erfolgreich, wenn alle funktionierenden Strategien gleichzeitig eingesetzt werden. Die Organisation AIDES in Frankreich hat einen ähnlichen Leistungsauftrag wie die Aids-Hilfe Schweiz. AIDES hat sich unermüdlich für die PrEP eingesetzt und Pionierarbeit geleistet. Ist Paris so weit weg von Zürich?
Der Autor dankt Dr. Hans-Benjamin Hampel vom Universitätsspital Zürich für seine Unterstützung.
David Haerry / August 2017
1Violari A et al. Viral and host characteristics of a child with perinatal HIV-1 following a prolonged period after ART cessation in the CHER trial. 9th IAS Conference on HIV Science, Paris, abstract TuPDB0106, July 2017
2Bavinton B et al. (presenter Grulich A) HIV treatment prevents HIV transmission in male serodiscordant couples in Australia, Thailand and Brazil. 9th International AIDS Society Conference on HIV Science, Paris, abstract no TUAC0506LB, July 2017
3https://www.preventionaccess.org/consensus
4Eron J et al. Safety and efficacy of long-acting CAB and RPV as two drug IM maintenance therapy: LATTE-2 week 96 results. 9th International AIDS Society Conference on HIV Science, Paris, abstract MOAX0205LB
5McCormack S After PROUD… 9th IAS Conference on HIV Science (IAS 2017), Paris, Präsentation Nr SUSA0704, Juli 2017
6Grulich A Taking PrEP to scale for gay and bisexual men in Australia. 9th IAS Conference on HIV Science (IAS 2017), Paris, Präsentation Nr SUSA0705, Juli 2017
7Mitzy Gafos Experiences and perceptions of PrEP among gay and other men who sex with men (MSM) using PrEP in the PROUD study in England, 9th IAS Conference on HIV Science (IAS 2017), Paris, Abstract TUAC0105, Juli 2017
8Antoni G et al. On-demand PrEP with TDF/FTC remains highly effective among MSM with infrequent sexual intercourse: a sub-study of the ANRS IPERGAY trial. 9th International AIDS Society Conference, Paris, Abstract Nummer TUAC0102, Juli 2017
10Zimmermann H et al. Pre-exposure prophylaxis (PrEP) among men who have sex with men (MSM) in the Netherlands: motives to choose for, switch to, or stop with daily or event-driven PrEP. 9th International AIDS Society Conference, Paris, Abstract Nr WEAC0106LB, Juli 2017
11Landovitz R et al. Safety, tolerability and pharmacokinetics of long-acting injectable cabotegravir in low-risk HIV-uninfected women and men: HPTN 077. 9th International AIDS Society Conference on HIV Science, Paris, Abstract Nr TUAC0106LB, Juli 2017
12McGowan I et al. An open-label multiple dose phase 1 assessment of long-acting rilpivirine. 9th International AIDS Society Conference on HIV Science, Paris, Abstract Nr TUAC0103, Juli 2017