40 Jahre Spritzen-Abgabe-Verbot in Zürich

Wer kann sich nicht an die Aussage des BAG-Delegierten für Covid-19, Daniel Koch, im März 2020 erinnern: “Gesunde Personen sollen in der Öffentlichkeit keine Hygienemasken tragen. Diese schützen eine gesunde Person nicht effektiv vor einer Ansteckung mit Viren der Atemwege.”[1]  Die Aussage war nicht ganz zu Ende gedacht und wurde innerhalb kurzer Zeit zurückgenommen. Es war nicht der erste Fall eines Lapsus von Gesundheitsbehörden. Noch tragischer war das Resultat einer seuchenpolitischen Fehlentscheidung im Jahr 1985. Sie kostete tausende Menschen das Leben und erzeugte Kosten für das Gesundheitswesen und den Kanton Zürich in Milliardenhöhe. Der Zürcher Kantonsarzt Prof. Dr. Gonzague Kistler verkündete damals, dass er Ärztinnen und Ärzten die Praxisbewilligung entziehen würde, wenn sie sterile Spritzen an Personen abgeben, die Substanzen injizieren.

Ich möchte hier die Geschichte erzählen von zwei jungen Frauen, die Opfer dieses dummen Akts und der Einstellung dahinter wurden. Sie und alle anderen Opfer verdienen es, dass wir niemals vergessen, was vor 40 Jahren geschah in Zürich, am Bellevue, hinter dem HB, im Niederdorf…

Den ersten Kontakt mit Hepatitis und Drogen hatte ich mit 11 Jahren durch meinen Onkel B. Er arbeitete 1970 als junger Arzt im Drop-in in Zürich. Oft hat er mir und meiner Schwester von seiner Arbeit erzählt. Das Drop-In war ein Ort, wo Personen, die Substanzen injizierten, ohne Terminabsprache vorbeikommen konnten bei Notfällen. B. musste viele Abszesse versorgen, er erzählte aber auch von Patienten, die gelb waren, weil sie eine akute Hepatitis hatten. Damals fanden wir Kinder das lustig und machten allerlei schreckliche Witze darüber. Ich hatte aber zu früh gelacht, denn um 1990 hatte ich mich selber angesteckt mit Hepatitis C, wahrscheinlich auf dem Platzspitz.

Der Umgang mit Menschen, die Substanzen injizieren, in den 1980er-Jahren

Die gängige Meinung 1985 in der Gesellschaft über Personen, die Substanzen verwenden, war nicht nur negativ, sondern auch hartherzig und ignorant. Die meisten dachten, bei Sucht handle es sich um eine Charakterschwäche, die erst kuriert werden könne, wenn die Betroffenen ganz am Boden ankommen. Nur dann wären sie bereit, ihre falschen Gewohnheiten zu korrigieren. Da kommt es gerade recht, wenn sie einmal richtig krank werden, vielleicht können sie dann den richtigen Weg erkennen und sich nachhaltig zum Besseren ändern. Nicht einkalkuliert dabei war, dass Personen, die mit unsterilen Utensilien Substanzen injizierten, unheilbare und tödliche Krankheiten bekamen, weiter übertrugen und diese sich sofort in erschreckendem Ausmass in der Gesellschaft verbreiteten. Das Wissen über die Gefahr war zwar vorhanden – das Hepatitis- B-Virus wurde zum Beispiel 1967 entdeckt – es sickerte aber nur langsam in das Bewusstsein der Bürger, und leider auch der Ärzteschaft. Sogar nach der Entdeckung von HIV hielt Kantonsarzt Kistler am Spritzenabgabeverbot fest und kommentierte: “Ich anerkenne, dass Aids via Beschaffungsprostitution auch bis in die besten Kreise verschleppt wird. Präventivmedizinisch gesehen ist die Abgabe von sauberem Injektionsmaterial nicht sehr hilfreich, weil die Süchtigen wenig Hygienebewusstsein haben”[2].

Der Musikpavillon auf dem Platzspitz der Stadt Zürich heute. (Bild: zvg) 

Man könnte argumentieren, dass das Verbot dazu gedacht war, vom Drogenkonsum abzuhalten – vielleicht aus der Überzeugung heraus, dass eine Erleichterung des Drogenkonsums diesen fördern würde. Ein Beweis dafür wurde aber nie vorgelegt. Das Verbot der Abgabe steriler Injektionsutensilien im Kanton Zürich verstiess gegen wichtige ethische Grundsätze – es erhöhte den Schaden, untergrub die Würde und räumte moralischer Abschreckung Vorrang vor der öffentlichen Gesundheit ein. Daher war das Verbot aus ethischer Sicht nicht zu rechtfertigen.

Im Oktober 1984 betrug der Anteil von Personen, die Substanzen injizierten, an der Gesamtzahl der gemeldeten HIV-Fälle in Europa 2 %. Nach einem Jahr, im Oktober 1985, betrug dieser Anteil bereits 8 %. Innerhalb eines Jahres wuchs der Anteil um sechs Prozentpunkte an. Die Schweiz hatte Mitte der achtziger Jahre die höchste Häufigkeitszahl an HIV-Infektionen in Europa zu verzeichnen [3].

Die Geschichte von K. und E.

Als ich die beiden 1980 kennenlernte, waren K. und E. zwei befreundete junge Frauen, die zusammen in  einer WG in Zürich Höngg wohnten. K. studierte Medizin und E. war Arzthelferin. Beide liebten das Nachtleben und auch die sehr wilde Zeit der 1980er Jugendunruhen. Abends waren K. und E. meistens in der Kontiki-Bar anzutreffen. Beide waren politisch nicht sehr interessiert, sie wollten einfach das Leben geniessen, in vollsten Zügen. Dazu gehörte natürlich auch der Gebrauch diverser Substanzen. Eigentlich verwendeten die beiden alles, was es damals gab. K. hatte schon als Kind eine Affinität für Codein entwickelt, weil ihr Vater Zahnarzt war und immer eine grosse Flasche davon im Badezimmerschrank hatte. Manch mühsamer Schultag liess sich leichter überstehen mit ein paar der bitteren Tropfen intus. So hatte K. keine Hemmungen, später auch Heroin zu probieren und gelegentlich zu konsumieren. Als ich K. kennenlernte, war sie aber noch nicht abhängig von irgendeiner Substanz. Sie war eine sehr aufgestellte, intelligente und lebenslustige 20-jährige Frau.

Etwa drei Jahre lebte ich mit K. zum Teil zusammen, in der WG mit E. in Höngg. K. hatte in unserer gemeinsamen Zeit nur gelegentlich Heroin verwendet. Ich fand es immer schrecklich, wenn das der Fall war, weil sich dann ihre Gesichtszüge auf unheimliche Art veränderten und ihr Ausdruck einfror. Ihre Augen verloren das Funkeln und ihre Pupillen schrumpften auf Stecknadelgrösse. Es brach mir immer das Herz, K. so zu sehen. Einmal hatte ich mit K. einen heftigen Beziehungsstreit. In der Folge hatte K. einen solchen Wutanfall, dass sie stracks ins Bellevue-Rondell eilte. Dort kaufte sie sich eine Dosis Heroin und injizierte es mit der gebrauchten Spritze des Dealers direkt an der Tramhaltestelle. Ich war total perplex. Alles, was sie über Hygiene gelernt hatte, war K. auf einmal total egal. Es musste schnell gehen und K. wusste, in der Bellevue Apotheke würde sie definitiv keine sterile Spritze bekommen. K. hatte zwar ihr Medizinstudium mittlerweile an den Nagel gehängt und arbeitete als Kassiererin in einem Sexkino im Niederdorf, trotzdem wusste sie genau Bescheid über die Gefahr, die von gebrauchten Spritzen ausging. Aber schon vor dem Verbot war es in Zürich praktisch unmöglich, ein frisches “Ise” oder eine “Pumpi” (Eisen oder Pumpe: CH Slang für Spritze) zu bekommen. Ich wusste, wenn selbst meine Freundin K. wissenden Auges Spritzen tauschte, würden das alle anderen auch tun, wenn sie keine andere Möglichkeit haben. Das Verlangen nach Heroin und Kokain war definitiv stärker als die Vernunft, Erziehungsmassnahmen der Art von Doktor Kistler also nicht zielführend.

Viele von den damals infizierten Menschen sind mittlerweile gestorben, denn in den ersten Jahren nach der Entdeckung gab es noch keine Medikamente gegen HIV. Es fühlte sich an wie ein Todesurteil, eine entsprechende Diagnose zu bekommen. Auch ich selber musste mehrfach lange auf HIV-Testresultate warten, was immer extrem unangenehm und unheimlich war, zum Beispiel nach einem entsprechenden zwischenmenschlichen Kontakt. Ich hatte aber immer Glück und habe mich nie mit HIV infiziert. Bei so einer Gelegenheit bekam aber eine weitere Freundin von mir ein positives Testresultat. Wir waren natürlich beide geschockt, ich hatte eher mit dem umgekehrten Ergebnis gerechnet. Unsere Beziehung ging dann leider ziemlich schnell in die Brüche. Wir waren beide total überfordert mit der Situation. Da meine eigene Geschichte damals nicht von Heroin, sondern von Kokain Abusus bestimmt war, hatte ich mich erst viel später und zum Glück nur mit dem heute leicht heilbaren Hepatitis-C-Virus angesteckt. Die Utensilien damals waren bereits steril, mein HCV wurde wahrscheinlich über das Wasser an einem Filter-Tisch übertragen. Da HCV 10x ansteckender ist als HIV, wurde das Virus selbst durch Abkochen in einem Löffel nicht abgetötet. Um das zu verhindern, müssen sterile Einweg-Löffel, Filter und abgepackte Einzelportionen von Kochsalzlösung verwendet werden.

K.s Leben auf Substitutionstherapie und mit HIV

K. hatte zwar die ersten Jahre ohne HIV-Medikamente gut überstanden. Lange Zeit lebte sie im Ausland, war clean und hatte einen tollen Job am Roten Meer auf einer Tauchbasis, wo sie auch eine Ausbildung zur Tauchlehrerin machte. Wieder zuhause in Zürich im alten Umfeld wurde K. aber leider rückfällig. Auch wurden bei ihr die T-Helferzellen so wenig, dass sie eine der frühen HIV-Therapien (die erste 3er-Kombination) beginnen musste. K. hatte neben der Opioid-Substitutionstherapie gelegentlichen Kokain-Beikonsum und tragischerweise in der Folge eines solchen, als bekannte Wechsel/Nebenwirkung mit den HIV-Medikamenten einen Hirnschlag. Die halbseitige Lähmung und Sprachstörung konnte K. in relativ kurzer Zeit mit eisernem Training zum grossen Teil ausheilen, so dass sie wieder laufen konnte und keine Hilfe mehr brauchte. Doch dies war erst der Anfang ihres Leidensweges. Ich war gerade an der Arbeit, als mein Mobiltelefon klingelte. Ein Freund von K. war dran: K. liegt auf der Intensivstation im USZ im Koma. Ich bin sofort hingefahren. K. lag auf einem Behandlungstisch umringt von Ärzt*innen, sie hatte gerade einen epileptischen Anfall als Folge eines erneuten Schlaganfalls. Diesmal hatte K. grosses Pech, denn ihr damaliger Lebenspartner R. war nicht zuhause. Sie hatte nach dem Vorfall unbemerkt mindestens 12 Stunden bewusstlos am Boden im Badezimmer gelegen. Dadurch war eine schnelle Intervention nicht mehr möglich. Diesmal war die andere, bisher gesunde Körperhälfte vollständig gelähmt. K. war darum, nachdem sie nach einigen Tagen aus dem Koma erwachte, für den Rest ihres Lebens 100% pflegebedürftig. Die Beeinträchtigung war motorisch, geistig war K. immer noch fit. Es war zuerst sehr schwer, den richtigen Pflegeplatz für sie zu finden. Sie war noch zu jung für ein Altersheim und angewiesen auf die Substitutionstherapie. An einem Ort wurde K. derart falsch behandelt, dass sie dehydriert auf einer Notaufnahme landete. Es stellte sich heraus, dass der Heimbetreiber Cannabis ins Essen gemischt hatte, um seine Schützlinge ruhigzustellen in der Nacht. Damit sie nicht zu viel auf die Toilette mussten, bekamen sie einfach weniger zu trinken. Schlussendlich fand man einen Platz für sie im Zürcher Lighthouse, aber erst nach einer schlimmen Odyssee durch verschiedene Pflegeeinrichtungen.

K. lebte danach mehrere Jahre den Umständen entsprechend recht zufrieden im Zürcher Lighthouse, einem Sterbehospiz. Hier bekam sie die optimale Pflege und Betreuung. Das einzig bedrückende an dem Ort war, dass dauernd die netten Leute gestorben sind, die auch noch dort waren. Ihr damaliger Lebenspartner R. besuchte K. jeden Tag, er wohnte ganz in der Nähe und betreute K. hingebungsvoll. Er hielt ihr Zigaretten an den Mund oder kratzte sie bei Bedarf, fuhr sie herum auf ihrem Rollstuhl, machte Kaffee und stellte das TV-Programm ein. R hatte selber HIV, Hepatitis C und Lymphome. Eines Nachts war R. zuhause plötzlich gestorben. Für K. brach wieder einmal die Welt zusammen, das war schrecklich, ihre Verzweiflung riesig. Die einzige Gnade, die K. vom HI-Virus gewährte wurde, war die Möglichkeit, ihrem Leben selbstbestimmt ein Ende zu setzen. K. bestellte ihre verbliebenen Freunde zu sich und erklärte, sie würde ab sofort aufhören, ihre HIV-Medikamente zu nehmen denn sie wolle nicht mehr weiterleben. K. starb friedlich nach wenigen Wochen an einer Lungenentzündung.

E.s nicht behandelbare Hepatitis-Infektion

Unsere gemeinsame Freundin E. war 1968 mit ihren Eltern aus der Tschechoslowakei geflohen und besuchte in der Schweiz die Schule. Als ich sie kennenlernte, arbeitete sie in einer Arztpraxis als Arzthelferin. Den Job machte sie nicht so wahnsinnig gerne. Lieber war sie mit K. unterwegs im Nachtleben der Stadt Zürich. Als sich ihr die Gelegenheit bot, mit K. als Kassierin im Sexkino zu arbeiten, packte sie die Gelegenheit und hängte ihren Arzthelfer-Job an den Nagel. Leider hatte auch sie eine grosse Vorliebe für Sugar (Heroin) und der intravenösen Anwendung. Kein Wunder, war auch sie bald infiziert mit Hepatitis- und HI-Viren. Schon wenige Jahre danach spürte E. die ersten Auswirkungen. Sie hatte eine chronische Hepatitis B, ständig war ihr schlecht und sie war oft müde. E. konnte darumschon bald nicht mehr arbeiten, bekam eine Leberzirrhose und musste in der Folge wiederholt hospitalisiert werden. Die Prognose für sie verschlechterte sich rapide. Medikamente wie Tenofovir gab es damals noch nicht. E. starb noch vor K. auf der Intensivstation an den Folgen ihrer Hepatitis.

Was haben wir daraus gelernt?

Nicht immer war der Fall so klar wie bei K. und E. Viele Menschen sind gestorben an der unmenschlichen Spritzen-Abgabe Politik ohne eindeutige Todesursache. Die Zürcher Ärztegesellschaft hat in den folgenden Jahren Dr. Kistler aus der Standesorganisation ausgeschlossen, entlassen vom Kanton Zürich wurde der Kantonsarzt jedoch nie. Sollman eine offizielle Aufarbeitung und Kommentierung der Geschehnisse vor 40 Jahren fordern? Tatsächlich wird stellenweise immer noch auf ähnliche Weise verfahren durch die Behörden. Denken wir nur an die diversen Gefängnisse in der Schweiz, in denen keine sterilen Injektionsutensilien abgegeben werden, mit der Begründung: Drogen sind verboten in diesem Gefängnis!

Oliver Wehrli / Mai 2025

[1] https://www.beobachter.ch/gesundheit/medizin-krankheit/das-masken-desaster-302929

[2] https://www.tagesanzeiger.ch/_external/storytelling/platzspitz/kapitel2/index.html

[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Spritzentausch

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